1964, vor fast genau fünfzig Jahren erschien ein Buch, das die deutsche Bildungslandschaft erschütterte – aber nicht revolutionierte. Ein revolutionäres Buch mit gerade mal 97 Seiten, das hunderte Schritte anstieß, aber im Laufe von teilweise notwendigen und wichtigen, teilweise nur bürokratischen Entwicklungen seine revolutionäre Sprengkraft einbüßte: „Die deutsche Bildungskatastrophe“ von Georg Picht.[1]
Picht war von 1946 bis 1956 Leiter des Elitegymnasiums Birklehof in Hinterzarten. Dort verfolgte er, wie viele der erfolgreichen Privatschulen heute, ein eindeutig kompetenzorientiertes Bildungsprogramm. Er hielt das Bildungssystem in den Sechzigerjahren für katastrophal unfähig, die seinerzeit notwendigen Neuerungen zu vollziehen. Die Parallele zur heutigen Bildungssituation ist offensichtlich. Wir halten das gegenwärtige Bildungssystem immer noch für katastrophal unfähig, die heute notwendigen Neuerungen zu vollziehen: Nämlich anstatt der angeblichen Vermittlung von Sach- und Fachwissen durchgängig Strukturen für die Entwicklung und Reifung von Kompetenzen zu schaffen.
„Die deutsche Bildungskatastrophe“ bediente sich eines von seinen Liebhabern fast zu Tode umarmten Begriffs. Jeder versteht unter Bildung etwas anderes. Doch stets wird der arme Humboldt als Kronzeuge bemüht. Die einen interpretieren den Bildungsbegriff von Humboldt als höchsten, umfassendsten Ausdruck der körperlichen und geistigen Selbstorganisationsfähigkeit des Menschen. Die anderen wollen vor allem darauf hinweisen, dass zur geistigen Entwicklung des Menschen Wissen, Wissen und nochmals Wissen gehört, dass Wissen Macht ist. Wer wollte das bestreiten. Doch ob man vor allem die Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten in den Mittelpunkt rückt, in neuartigen, problemoffenen Situationen selbstorganisiert und kreativ zu handeln, also die Kompetenzen, oder ob man sich vor allem die Beglückung jedes einzelnen mit möglichst viel Sach- und Fachwissen, also die Darbietung und Verteilung dieses Wissens zur Aufgabe macht, ergibt sich ein ganz unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Blick auf die Bildung, auf den Bildungsbegriff.[2]
Welches Bildungsverständnis hatte Georg Picht, als er die deutsche Bildungskatastrophe bild-, wort- und faktenreich beschrieb? Picht war keiner, der das wirkliche Wissen gering schätzte und hoffte, es gäbe eine Selbstorganisationsfähigkeit des Geistes ohne Wissensbasis. Aber auch keiner, der das Loblied „toten“ Wissens sang.[3] Seine Vorstellung von Bildung fasste er in der schönen Formulierung zusammen: „Erziehung ist in den wichtigsten Bereichen eine Kunst des Geschehenlassens, nicht eine Kunst der Formung. Und eine Pädagogik, die sich vermisst, nach dem Gleichnis Gottes die Menschen auf ein Entwicklungsziel hin bilden zu können, verfängt sich in einem Selbstbetrug, der nur die unheilvollsten Folgen haben kann.“ [4]
Damit ist er ganz nahe dem Humboldtschen Verständnis von Bildung. Der neue wesentliche Aspekt Humboldts war, „…dass der … aufgeklärte Mensch sich nicht mehr nach dem Abbild Gottes richten und bilden soll, sondern – ganz im Sinne der Aufklärung – sich selbst bilden und verwirklichen soll. Damit bekommt der Bildungsbegriff im 18. Jahrhundert vor allem die neue Dimension des sich-selber-bildens.“[5] Die Nähe zum modernen Kompetenzbegriff ist unübersehbar.
Picht rechnete anhand von quantitativen Vergleichen vor, dass die Bundesrepublik Deutschland am untersten Ende der europäischen Bildungssysteme stand und deshalb Gefahr lief, auch wirtschaftlich abgehängt zu werden. Es ist beinahe tragikomisch, wie Georg Picht seinerzeit versuchte, für Bund und Länder Notstandsprogramme und verbesserte Verwaltungsabkommen zu entwerfen, Bildungsplanung und Kulturpolitik in Bewegung zu bringen. Überall, wo er quantitative Ausweitungen forderte, gab es durchaus Erfolge. Die Anzahl der Abiturienten erhöhte sich rasant. Die Universitäten wurden mehr und mehr zu Massenuniversitäten. Aspekte der Kompetenzentwicklung spielten keine Rolle.
So schließen seine Überlegungen völlig resigniert: „Wenn die Regierung versagt, ist es die Pflicht der Bürger, im Rahmen der Spielregeln der Demokratie für das vernachlässigte Gemeinwohl einzutreten. Deswegen habe ich das Wort ergriffen. Aber der Rückblick zeigt, dass sich mit Worten gegen das Schwergewicht der Verhältnisse wenig ausrichten lässt.“ [6]
[1] Picht, G. (1965): Die deutsche Bildungskatastrophe. Freiburg i.B.
[2] vgl. Arnold, R., Erpenbeck, J. (2014): Wissen ist keine Kompetenz. Dialoge zur Kompetenzreifung. Hohengehren
[3] Liessmann, K. P. (2014): Geisterstunde: Die Praxis der Unbildung. Eine Streitschrift. München
[4] Picht, G. (1969): Die Verantwortung des Geistes: Pädagogische und politische Schriften, Stuttgart. S. 28
[5] Büssers,P.(2007): Der Bildungsbegriff, Köln
[6] Picht, G., ebenda, S.