Jochen Robes hat in seinem Weiterbildungsblog vom 12. Oktober 2014 auf einen Gastkommentar des Wiener Philosophie-Professors Konrad Paul Liessmann in der NZZ mit dem Titel „Das Verschwinden des Wissens“ verwiesen. Dort werden Exzesse und Stilblüten der Kompetenzorientierung in schweizer Lehrplänen mit bis zu 4.500 Kompetenzen dargestellt und bewertet. Auch in diesem Blog habe ich schon über die „kompetenten Säuglinge“ und die PISA-Pervertierung des Kompetenzbegriffes nachgedacht. Deshalb kann ich mit der inhaltlichen Kritik von Liessmann durchaus in weiten Bereichen mitgehen, empfinde aber seinen undifferenzierten Umgang mit dem Begriff Kompetenz als höchst fahrlässig.
Dieser Ansatz der „Kompetenzorientierung“, den Liessmann aufgreift, hat außer dem Wort kaum etwas mit dem Kompetenzbegriff zu tun, der sich aus der Kompetenzforschung von Erpenbeck, Heyse oder von Rosenstiel ableitet. Dies kann an folgenden Merkmalen dieses Ansatzes verdeutlicht werden:
- Kompetenzen verstehen Erpenbeck und Heyse (2008) als die Fähigkeit, sich in offenen und unüberschaubaren, komplexen und dynamischen Situationen, d.h. in ihrer Praxis, selbstorganisiert und kreativ zurecht zu finden. Diese Selbstorganisationsdispositionen erfordern einen Bildungsansatz, der sich an selbst bestimmenden Persönlichkeiten orientiert und diese auch voraussetzt. Dies hat wirklich nichts mit den von Liesmann zitierten Fähigkeiten, wie „Inhalte verstehend zuhören“ ,die in den schweizer Lehrplänen „Kompetenzen“ genannt werden, zu tun.
- Wissen und Qualifikation auf der einen Seite und Kompetenzen auf der anderen, werden von Erpenbeck/Heyse nicht als Gegensatz, sondern als eine notwendige Verbindung gesehen. Ohne Wissen und ohne Qualifikation sind Kompetenzen nicht möglich. Kompetenzentwicklung in diesem Sinne bedeutet damit eine Erweiterung der Ziele in der Bildung, nicht eine Reduktion oder gar ein „Verschwinden von Wissen“. Dies bedeutet auch, dass im Rahmen einer Kompetenzentwicklungskonzeption auch verbindliches Wissen definiert werden kann und häufig auch muss.
- Kompetenzen können nicht vermittelt werden, sondern nur in neuartigen, offenen und realen Problemsituationen von den Lernern selbst kreativ handelnd aufgebaut werden. Deshalb erfordert Kompetenzentwicklung keine „Lehr“pläne, wie in den schweizer Schulen, sondern eine individuelle „Lern“planung der Lerner. Zentral vorgegebene Curricula und individuelle Kompetenzentwicklung sind deshalb ein Widerspruch in sich. Kompetenzentwicklung hat damit zur Folge, dass die fremdorganisierte Lehre durch Lernkonzeptionen abgelöst wird, die auf dem Prinzip des selbstorganisierten Lernens basieren.
- Kompetenzen schlagen sich immer in Handlungen nieder. Sie sind keine Persönlichkeitseigenschaften und können schon gar nicht gelehrt, vermittelt oder getestet werden. Sie können auch nicht an jedem beliebigen Gegenstand erworben werden, wie Liessmann zu Recht für die schweizer Lehrpläne kritisiert, sondern werden im Rahmen der jeweiligen individuellen Herausforderungen des Lernenden zielgerichtet und selbstorganisiert aufgebaut.
- Es gibt keine Kompetenzen ohne Emotionen. Alle gegenteiligen Behauptungen, wie z.B. der PISA-Vertreter ((Klieme et. Al. 2007, S. 5), sind unzutreffend. Denkabläufe erfordern Gefühle, damit in sie all die Informationen einfliesen können, die wir anders nicht erfassen können. Ein Verstand ohne Gefühle ist untauglich (Lehrer 2009, S. 39).
Liessmann kritisiert zu Recht, dass in dem Maße, in dem Kompetenzen als formale Fertigkeiten verstanden werden, die an beliebigen Inhalten erworben werden können, die Idee jedes durch Neugier motivierten Erkenntnis- und damit Bildungsprozess konterkariert wird. Genau das Gegenteil findet aber in Kompetenzentwicklungsprozessen statt, die auf Emotionen aufbauen und die Verinnerlichung (Interiorisation) von Erfahrungen zu einem individuellen Wertesystem zum Ziel haben.
Das was Liessmann bezogen auf die schweizer Lehrpläne kritisiert, dass die Schüler um die Faszination gebracht werden, die von einer Sache, einem Thema, einem Gegenstand oder einer Frage ausgehen kann, ist gerade der Kern des Kompetenzentwicklungsansatzes, den wir verfolgen. Was gibt es denn faszinierenderes im Lernen, als herausfordernde Problemstellungen selbstorganisiert und kreativ lösen zu können. Dann bleibt die „Selbstorganisation“ am Ende kein „Betrugsmanöver“, sondern wird zum Kern einer persönlichkeitsorientierten Bildung mit dem Ziel einer sich selbst bestimmenden Individualität und Persönlichkeit.
Der Paradigmenwechsel, zumindest in der betrieblichen Bildung, den wir gerade erleben, erfordert es, die Begriffe, die wir nutzen, klar zu definieren. Der Vergleich von Äpfel und Birnen führt uns nicht weiter.
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