Bildungsverständnis im Wandel

Unser Bildungsverständnis wandelt sich ständig, da es vom kulturellen und zeitgeschichtlichen Kontext abhängt. Es gibt offenbar kein einheitliches Verständnis darüber, was Bildung umfasst. Wissen, Intellektualität, Selbstbestimmung, Mündigkeit, Emanzipation und Kultiviertheit stehen für Bildung – darin verankert spielen Individualität und Persönlichkeit eine bedeutende Rolle.

Für die Leibniz Sozietät der Wissenschaften zu Berlin, der John Erpenbeck und ich angehören, haben wir einen Beitrag für einen Sammelband „Unser Bildungsverständnis im Wandel“ geschrieben, in dem wir den Begriff aus dem Blickwinkel von Organisationen in einer agilen Arbeitswelt  beschreiben.

Bildung  geht bei allen Autoren in diesem Sammelband von einem Menschenbild eines mit umfassendem Wissen, vielfältigen Kompetenzen und verbindlichen Werten ausgestatteten Menschen aus, der sämtliche in ihm angelegten Fähigkeiten bei sich selbst ausbildet und sie für eine über die eigenen sozialen Milieugrenzen hinausreichende Lebensführung nutzt, die der Allgemeinheit dient.

Wir steuern auf eine sich rasend verändernde Datenökonomie, eine Datenkultur, eine Datenwelt zu und benötigen völlig neue Fähigkeiten, uns zwischen den Dingen des Internets, im Internet der Dinge zurechtzufinden und trotzdem menschengerecht zu handeln. Wer glaubt, immer mehr von diesen Daten, diesem Informationswissen in seinem Gehirn abspeichern zu müssen, ist schon fehlberaten, ist verraten.

Es ist schon erstaunlich. Dass das heutige Bildungssystem genau in diesem Glauben verharrt, dass es das Auswendiglernen  von Sach- und Fachwissen immer noch für Bildung hält, ist eine Katastrophe. Das gegenwärtige staatliche Bildungssystem ist unfähig, die heute notwendigen Neuerungen zu vollziehen: Nämlich anstatt der angeblichen Vermittlung von Sach- und Fachwissen durchgängig Strukturen für die Entwicklung und Reifung von Kompetenzen für die zukünftige Lebens- und Arbeitswelt zu schaffen.

Wie lassen wir in Schülern und Studenten die Fähigkeiten reifen, offene Probleme selbstorganisiert und kreativ zu lösen? Wie bereiten wir Schüler und Studenten auf Jobs vor, die gegenwärtig noch gar nicht existieren, auf die Nutzung von Technologien, die noch gar nicht entwickelt sind, um Probleme zu lösen, von denen wir heute noch gar nicht wissen, dass sie entstehen werden? Diese Herausforderungen werden im aktuellen Bildungssystem weitgehend ignoriert.

Erst der moderne Kompetenzbegriff erfasst die menschlichen Fähigkeiten, in offenen Situationen selbstorganisiert und kreativ zu handeln. Der so gefasste Kompetenzbegriff ist der moderne Bildungsbegriff.

Der bisherige wirtschaftliche Aufschwung wird ein rasches Ende nehmen, wenn uns die kompetenten Nachwuchskräfte fehlen. Wenn das Bildungswesen versagt, ist die ganze Gesellschaft in ihrem Bestand bedroht, postulierte bereits Georg Picht vor über fünfzig Jahren. Die Ökonomen Eric A. Hanushek und Ludger Wößmann haben in langfristigen, internationalen Studien nachgewiesen, dass es einen ursächlichen Effekt besserer Bildungsleistungen auf das wirtschaftliche Wachstum gibt. Danach hängen die volkswirtschaftlichen Wachstumsraten langfristig direkt mit den Kompetenzen der Menschen zusammen, weil Bildung die Menschen in ihrer Arbeit produktiver und innovativer macht.

In diese Diskussion platzt die Nachricht, dass Präsident Macron in Frankreich sein Wahlversprechen wahr gemacht hat und ein generelles Handyverbot an Schulen eingeführt hat. Die Befürworter dieser Regelung argumentieren, dass die unkritische Verwendung von Mobilephones der geistigen und sozialen Entwicklung schaden, zu angeblich nachgewiesenen Haltungsmängeln, Bluthochdruck, Schlafstörungen  und Aufmerksamkeitsstörungen bis hin zu Suchtmerkmalen führen.  Die Schüler würden in den Pausen nicht mehr essen, trinken oder Fangen spielen.

Die Frage die ich mir stelle ist, wo sollen die Jugendlichen den verantwortungsvollen Umgang mit dem Handy erlernen, wenn nicht in der Schule? Wie bauen sie ihre Medienkompetenz auf, passende Informationsquellen zu finden, zu bewerten, sicher im Netz zu kommunizieren und kollaborativ zusammen zu arbeiten oder sich selbst sinnvoll  in Communities einzubringen? Sicher gibt es Eltern, die diese Aufgabe sehr Ernst nehmen. Die Realität zeigt jedoch, dass diese Kompetenzentwicklung in der Mehrzahl der Familien nicht wirklich erfolgt.

Es wird höchste Zeit, die Diskussion nicht an solchen Phänomenen fest zu machen, die wir eh nichtmehr verändern können. Vielmehr müssen sich die Bildungsinstitutionen der Diskussion stellen, von welchem Bildungsbegriff sie ausgehen wollen und wie sie die Schüler und Studenten tatsächlich auf die zukünftigen Herausforderungen vorbereiten können. Wenn Sie diese Diskussion ernsthaft führen, wird dies zu einem radikalen Wandel der gesamten Bildungslandschaft führen, zu neuen Strukturen, Organisationsformen, Lernprozessen sowie Rollen und Verantwortungen,die immer mehr zu den Lehrern und Lernen wandern. Ein Großteil der heutigen, beharrenden Kultusbürokratie wird überflüssig werden, dafür werden vor Ort in den Bildungseinrichtungen bedarfsgerechte Lernkonzeptionen entwickelt und umgesetzt. Dies erklärt, warum diese notwendige Diskussion nur bruchstückhaft geführt wird.

Innovative Wege des Lernens mit dem Ziel der Kompetenzentwicklung sind gefragt. Für die Gesellschaft – und für jeden Einzelnen: “Ein Zugewinn an Bildung im Sinne eines Zugewinns an Kompetenzen bedeutet einen Zugewinn an Handlungsfähigkeit und damit einen Zugewinn an Teilhabe am Leben und an der Welt.[1]

Kompetenzentwicklung ist die Bildung der Zukunft!

[1]Faix, W., Mergenthaler, J. (2013) S. 47

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