„Wer nicht weiß, wohin er will, darf sich nicht wundern, wenn er ganz woanders ankommt.“
Robert F. Mager
Wolfgang Sander, Didaktiker der Justus-Liebig-Universität Gießen, hat sich kürzlich in einem Artikel der FAZ[1], an den sich auch die Überschrift dieses Blogs anlehnt, mit der Aushöhlung des Kompetenzbegriffes in der deutschsprachigen Bildungslandschaft beschäftigt. Nachdem John Erpenbeck und ich „konsequent die Fahne der Kompetenzentwicklung hochhalten“ (Jochen Robes, www.weiterbildungsblog.de), will ich diese Diskussion aufgreifen und auch begründen, warum wir die Kompetenzorientierung als das wesentliche Kennzeichen zukünftiger betrieblicher Lernsysteme ansehen.
Über Kompetenzen als Bildungsziele wird in der Pädagogik, insbesondere im betrieblichen Bereich, seit einigen Jahrzehnten, deutlich zunehmend seit der Jahrtausendwende, kontrovers diskutiert. Ursprünglich war der Kompetenzbegriff nicht fachbezogen gedacht. So definierte Franz E. Weinert Kompetenzen als „die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen[2] und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“.[3] Es geht also um die Verbindung von Wissen, Können und Motivation mit dem Ziel der Problemlösung.
Im Rahmen der Pisa-Studien wurde jedoch auf Basis der Klieme-Expertise[4] die „Fachlichkeit“ als erstes und wichtigstes Merkmal kompetenzorientierter Bildungsstandards definiert. Außerdem sollten Kompetenzmodelle und kompetenzorientierte Standards durch standardisierte Tests überprüfbar sein und mit Noten bewertet werden können. Diese Forderung ist bei der sehr großen Zahl der Schüler, die im Rahmen von Pisa zu bewerten sind, verständlich. Es ist jedoch wohl wenig sinnvoll, die Kompetenzmodelle nach den Möglichkeiten der kostengünstigen Überprüfung zu gestalten.
Diese Verwässerung des Kompetenzbegriffes führte zu viel Verwirrung und Irrwegen. So ist zwischenzeitlich der „kompetente Säugling“[5] Gegenstand der Erziehung, auch findet sich kaum mehr eine Hochschule, die keine Kompetenzziele definiert hat, die aber meist nicht mehr als leerformelhafte Legitimationsfloskeln sind.[6] Der Bologna-Prozess an den Hochschulen hat bewirkt, dass auch überfachliche, berufsfeldorientierte Kompetenzen, die ein Fachstudium sinnvoll ergänzen, im Studium vermittelt werden sollen. Über 90 Prozent der deutschen Hochschulen haben die Vermittlung von „Kompetenzen“, zumindest in der Begrifflichkeit, in ihre Lehrpläne aufgenommen oder ein Konzept dafür entwickelt. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass in diesen Institutionen nach wie vor die Illusion einer „Wissensvermittlung“ und die Qualifizierung dominieren. Dies wird z.B. auch an den Empfehlungen der Hochschulrektorenkonferenz zur Hochschule im digitalen Zeitalter deutlich, die den Ausbau der Informationskompetenz fordert, dies jedoch fast ausschließlich am Wissensaufbau festmacht.
Nur wenige Universitäten wie die Universität St. Gallen, die Fachhochschule des Mittelstandes in Bielefeld oder das SIBE Herrenberg an der Steinbeis Hochschule verfolgen tatsächlich auch kompetenzorientierte „Lern“konzepte, z.B. mit der systematischen Bearbeitung von unternehmensrelevanten Projekten. Einige Hochschulen haben zumindest fakultative Kompetenznachweis- und Kompetenzentwicklungssysteme etabliert. Im internationalen Bereich nimmt dagegen das Kompetenzlernen spürbar zu.
Aber auch in den Unternehmen dominieren nach wie vor Wissens- und Qualifikationsziele, die in Lehr- und Informationsveranstaltungen, meist kombiniert mit eher zufälligem informellem Lernen am Arbeitsplatz. So wird beispielsweise die duale Berufsausbildung nach wie vor nach zentral vorgegebenen, stark wissensorientierten Rahmenlehrplänen organisiert, die den tatsächlichen Bedarf der Unternehmen nur begrenzt abbilden. Obwohl die Unternehmen die transferförderliche Gestaltung von Bildungsmaßnahmen und damit letztendlich den Aspekt der Kompetenzentwicklung als „Top-Thema Nr. 1“ bewerten, hat lediglich ein Drittel der von SCIL befragten Unternehmen ein systematisches Transfermanagement im Bildungssystem umgesetzt.[7]
Nahezu alle großen Unternehmen nutzen heute eigene, sorgfältig ausgearbeitete, in ihrer Personalauswahl und –entwicklung fest verankerte Kompetenzmodelle. In einer neuen Arbeit „Kompetenzmodelle großer Unternehmen“ von John Erpenbeck, Lutz von Rosenstiel und Sven Grote stellen u.a. Airbus, Bundesanstalt für Arbeit, Daimler, Porsche, Audi, Siemens Healthcare, DB, Deloitte, Telekom, Esterhazy, Globus Baumärkte, Münchner Rück oder die Salzgitter AG ihre Modelle vor.[8] Diese Kompetenzmodelle sind in der Regel in ein umfassend ausgearbeitetes Kompetenzmanagement eingebunden. Zunehmend entwickeln auch mittlere und kleine Unternehmen ein eigenes Kompetenzmanagement.
Aber auch in dieser Lernlandschaft finden sich noch alle gegenläufigen Entwicklungsstufen des Lernens, teilweise in denselben Betrieben. So leiten zwar viele Unternehmen die Notwendigkeit zur Entwicklung von Kompetenzen aus der Unternehmensstrategie ab. Die Kompetenzentwicklung soll dann aber nach unseren Praxiserfahrungen häufig in einer Reihe von Qualifikationsmaßnahmen, insbesondere in Seminaren, „nachgeholt“ werden. Ziele und Methoden widersprechen sich, das Kompetenzmodell wird zur Farce.
Die Ziele des betrieblichen Lernens verändern sich aber fundamental. Dafür sind vor allem der globale Wettbewerb und die Entwicklung zur Enterprise 2.0, aber auch das veränderte Medienverhalten der Mitarbeiter und Führungskräfte, verantwortlich. Unter Enterprise 2.0 versteht man dabei Unternehmen, die Soziale Software-Plattformen in der Kommunikation innerhalb der Organisation, aber auch mit Partnern und Kunden nutzen. Sie betreiben Social Business, indem sie Social Media und soziale Praktiken in ihre laufenden Aktivitäten integrieren.
Standen und stehen in traditionellen Bildungskonzepten Wissens- und Qualifizierungsziele, oftmals zentral vorgegeben, im Vordergrund, werden die Lernprozesse in zukunftsorientierten Unternehmen immer mehr durch individuelle, strategieorientierte Kompetenzziele gesteuert. Die heutigen, überwiegend qualifizierungsorientierten Lernsysteme ignorieren weitgehend die Eigenständigkeit und Vielfältigkeit der Lerner. Während die Lerner in seminargeprägten Qualifizierungsmaßnahmen oft passiv und fremdgesteuert sind, erfordern kompetenzorientierte Lernsysteme dagegen eine grundlegende Kulturveränderung. Die Rolle der betrieblichen Bildung wandelt sich zum Begleiter von Veränderungsprozessen, zum Service- und Dienstleister nach Bedarf und zum Impuls- und Ideengeber. Diese Veränderungsprozesse erfordern Zeit, da Sie den Umbau von über Jahrzehnte aufgebauten Handlungsroutinen aller Beteiligten voraussetzen. Deshalb müssen wir jetzt mit dem Wandel zur Kompetenzorientierung beginnen!
[1] Sander, W. in: FAZ 26.4. 2013, Nr. 97 S. 7
[2] Willentliche Steuerung von Handlungen und Handlungsabsichten
[3] Weinert, F. E. (Hrg) (2001), Leistungsmessungen in Schulen, Weinheim und Basel
[4] vgl. Klieme, E., Maag-Merki, K., Hartig, H. (2007): Kompetenzbegriff und Bedeutung von Kompetenzen im Bildungswesen, Berlin
[5] Bayerische Handreichung für Kitas
[6] Sander, W. in: FAZ 26.4. 2013, Nr. 97 S. 7
[7] Diesner, I., Seufert, S. (2010): SCIL, Trendstudie 2010 – Herausforderungen für das Bildungsmanagement in Unternehmen, St. Gallen
[8] Erpenbeck, J., v. Rosenstiel, L. und Grote, S. (Hrg.) (2013): Kompetenzmodelle von Unternehmen: Mit praktischen Hinweisen für ein erfolgreiches Management von Kompetenzen, Stuttgart