Diese Woche haben John Erpenbeck, Franz Peter Staudt und ich einen dreistündigen Workshop im Rahmen der E-Learning Professional auf der Didacta 2013 in Köln angeboten, an dem fast 100 Teilnehmer mitwirkten. Wir haben dabei versucht, aus der Prognose über die Entwicklung betrieblicher Lernsysteme in den kommenden zehn Jahren konkrete Handlungsempfehlungen für die Gestaltung heutiger, innovativer Lernsysteme abzuleiten. Diese Veränderungsprozesse halten wir bereits heute für notwendig, damit die Menschen und ihre Lernkultur genügend Zeit haben, sich in Hinblick auf diese Zukunft mit grundlegend neuen Herausforderungen zu entwickeln.
John Erpenbeck eröffnete unseren Workshop mit unseren Prognosen über die Entwicklung der zukünftigen Lernwelt aus unserem neuen Buch[1], die er in zehn „Gebote“ fasste. Das Lernen der Zukunft ist, wie von uns hier schon öfters postuliert, Kompetenzentwicklung. Wir sind keine Propheten. Wir sind keine Computer, die das gegenwärtige Wissen zu Lern- und Kompetenzentwicklungsprozessen in Sekunden zusammentragen können. Aber wir verfügen über viel Erfahrung bei der Gestaltung von Kompetenzentwicklungsprozessen mit Hilfe von Computern und der uns heute zur Verfügung stehenden technischen und medialen Möglichkeiten.
Im Einzelnen fasste John Erpenbeck unsere Erkenntnisse wie folgt zu Handlungsempfehlungen zusammen:
1. Sage nie „nie“ : Computer werden dieses oder jenes niemals können …
Wir sind überzeugt, dass mit zunehmender, gehirnähnlicher Dichte der verknüpften aktiven Elemente Human Computer möglich werden, die neben der rein kognitiven Selbstorganisation auch Formen von Ordnern der Selbstorganisation entwickeln, die Wertungen nahekommen und immer mehr Analogien zu Emotionen und Motivationen aufweisen, egal wie man sie dann nennen mag. Damit werden diese Maschinen immer „menschenähnlicher“, werden von Gehilfen zu Partnern und wahrscheinlich manche kreative menschliche Leistung überbieten. Zugleich werden sie zu idealen Lernpartnern, gemeinsam mit menschlichen Lernpartnern, in der zukünftigen Kompetenzentwicklung. Eher wird zukünftig die Langsamkeit menschlicher Wertinteriorisation zum begrenzenden Faktor in den betrieblichen Lernsystemen.
2. Nimm die Kompetenzentwicklung ernst …
Es wird in den Unternehmen zunehmend die Fähigkeit benötigt, in zukunftsoffenen, algorithmisch nicht entscheidbaren Situationen zu handeln, d.h. zunehmend sind Kompetenzen gefragt. Die darin interiorisierten Werte, die Emotionen und Motivationen, erlauben ein Handeln unter der entstehenden prinzipiellen, nicht zu beseitigenden oder zu unterlaufenden Unsicherheit. Der zu beobachtende Siegeszug des Kompetenzdenkens wird sich in den nächsten zwanzig Jahren unvermindert, wahrscheinlich sogar verstärkt fortsetzen. Computer werden sich dabei als wichtigste Verbündete erweisen.
3. Bedenke: Wissen kann nicht „vermittelt“ werden, Kompetenz schon gar nicht …
Wer Informationen übermittelt bekommt, verfügt noch über keinerlei eigenes Wissen. Dieses muss in komplizierten, die Wissensaneignung ermöglichenden Entwicklungsprozessen (Ermöglichungsdidaktik) erst aufgebaut werden. Noch weniger können Kompetenzen „vermittelt“ werden. Sie benötigen neben dem selbst aufgebauten Wissen individuell, in Form von Emotionen und Motivationen angeeignete, „interiorisierte“ Wertungen, die ein selbstorganisiertes, kreatives Handeln erst ermöglichen. Interiorisationsprozesse sind jedoch langwierig, setzen emotionale Beunruhigung, Irritation, Labilisierung voraus, um zu greifen. Dabei kann und wird der Partner Computer als Co-Coach in realen, emotional labilisierenden Situationen helfen und die Kompetenzentwicklung unterstützen können.
4. Nutze das Lernen im Prozess der Arbeit als Zentrum der Kompetenzentwicklung…
Nur der Arbeitsprozess, die Begeisterung bei der Übernahme eines neuen Projekts, die Angst, ob man der neuen Herausforderung auch gewachsen ist, die Verzweiflung, wenn echte Schwierigkeiten und Hemmnisse auftreten, die Erlösung, wenn man diese aufgrund des eigenen Handlungsvermögens überwinden kann – das sind emotionale Labilisierungen, die zu wirklichen Kompetenzgewinnen führen können. Coachingansätze stellen dabei unserer Ansicht nach eine der wirkungsvollsten Methoden dar, Kompetenzentwicklung zu fördern, kommt doch die tiefe emotionale Labilisierung aus dem realen Arbeitsprozess selbst, während das selbstorganisierte, kreative Handlungsvermögen durch die Mitwirkung des Coaches stark gefördert und in kürzerer Zeit gestärkt werden kann.
5. Organisiere das Co-Coaching als die zukunftsträchtige Variante des Coaching…
Gutes Coaching ist teuer. Gute Coachs sind selten. Coachingprozesse sind langwierig. Was liegt da näher, als sich mit dem Führungs-, dem Arbeitskollegen, dem Lernpartner, sogar dem Mitschüler gegenseitig zu coachen? Tandembildung ist Co-Coaching. Sie erweist sich als eines der wirkungsvollsten Arrangements, wenn es um die gegenseitige Kompetenzstärkung geht. Computer werden zukünftig, sofern sie tatsächlich in die Rolle eines ernst zu nehmenden Gesprächs- und Denkpartners hineinwachsen, Co-Coaching-Funktionen übernehmen. Wir bezeichneten dies als Computer-Co-Coaching.
6. Verfolge, ob, wie und ab wann Computer als Co-Coaches eingesetzt werden können…
Wenn Human Computer aufgrund ihrer zukünftigen Komplexität und Verknüpfungsdichte den Leistungen des menschlichen Gehirns nahe kommen, werden sie auch Fähigkeiten entwickeln, sich in offene, problematische Entscheidungs- und Handlungssituationen eindenken und vor allem auch einfühlen zu können, so problematisch uns das heute vielleicht noch scheinen mag. Damit wären sie ideale Coaches: Unermüdlich im Einsatz, um ihren Partner und seine Handlungen zu verstehen, die offene Situation zu begreifen und zu bewerten und Handlungsvorschläge zu unterbreiten, die nicht nur die augenblickliche Situation lösen, sondern auch, werden sie emotional bewertet abgespeichert, künftiges selbstorganisiertes, kreatives Handeln fördern. Sie dienen damit fraglos als Co-Coaches im Kompetenzentwicklungsprozess – so utopisch sich das heute noch anhört. Der Tag wird kommen.
7. Stärke die technischen Verbindungen, bekämpfe die menschliche Bindungslosigkeit…
Die Idee des Konnektivismus (Connectivism) des George Siemens ist eine pragmatische Lernkonzeption, die sich direkt auf das Lernen in Kommunikationsnetzen bezieht. Der Mensch wird darin als technisch wie menschlich vernetztes Individuum beschrieben. Diese Vernetzung und ihre Erfassung sind maßgeblich für das Lernen, da der Mensch jederzeit darauf zugreifen kann. Und ihre Bedeutung wird auch dadurch zunehmen, dass nicht nur einzelne menschliche Lerner als „Knoten“ des Netzwerks fungieren, sondern auch Lernpartner Computer in diese Rolle hineinwachsen können. Mit der wachsenden Vernetzung geht jedoch auch heute schon klar erkennbar ein Verlust wirklicher menschlicher Bindungen und Beziehungen einher. Unsere Überzeugung ist: Wer im technisch – kommunikativen Bereich Verbindungen aufbaut und fördert, hat die moralische Pflicht, in der ihm zugänglichen Umgebung auf den Erwerb von Bindungsfähigkeit und auf das Zugestehen von zeitlichen und räumlichen Freiräumen zu achten.
8. Beachte die Bedeutungsseite semantischer Netze in vollem Zukunftsumfang…
Semantische Netze dienen dazu, Wissen strukturiert und überschaubar darzustellen und den Zugriff effektiv zu gestalten. Sie können dazu dienen, Assoziationen zu erfassen und Ereignissen oder Objekten aus der Umwelt eine Bedeutung zuzuschreiben. Sowohl Assoziationen wie Bedeutungszuschreibungen hängen mit emotionalen Wertungen zusammen. Unsere Empfehlung: Schon heute Semantik in einem weiteren als nur datentechnischen Sinne zu verstehen suchen.
9. Fördere die Kompetenzentwicklung im Web 2.0, 3.0, 4.0… und in Clouds…
Mit der Weiterentwicklung der Netze in immer neue, unerwartete Formen und der immer stärkeren Nutzung von Clouds vollzieht sich eine dritte kopernikanische Wende. Das Verständnis und die Lehre vom Seienden, die Ontologie, war bisher eine ausschließliche Domäne des Menschen. Jetzt werden Ontologien zu Gegenständen von Informationstechnologien. Ohne diese Wertdurchmischung wären die Clouds armselig bizarre Gebilde ohne allen Glanz von Kultur, der die Nutzung so allgemein und die Verwendbarkeit im pädagogischen Zusammenhang so vielversprechend macht.
10. Dies sei und bleibe das Grundgebot: Ohne Gefühl geht gar nichts…
Die Weltanschauung von der Wissensgesellschaft weicht zunehmend einer Anschauung von der Welt als Kompetenzgesellschaft. Damit werden die Aneignung von Regeln, Normen und Werten in Form von eigenen Emotionen und Motivationen, die Wertinteriorisation, zukünftig immer wichtiger. Finden Sie den Punkt emotionaler Begeisterung, Beunruhigung, Irritation, kurz: Labilisierung, heraus, der Kompetenzentwicklung ermöglicht, wenn auch nie garantiert.
Diese sehr zum Nachdenken anregenden Ausführungen John Erpenbecks bildeten die Grundlage für unsere weiteren Überlegungen zur zukunftsorientierten Gestaltung von Lernkonzeptionen in Unternehmen heute. Wir wollen diesen Gedankenaustausch mit Praktikern und Experten in einer neuen, unternehmensübergreifenden Community of Practice zukünftig intensivieren. Das Interesse aus dem Teilnehmerkreis war groß. Deshalb wollen wir möglichst bald mit einer Start-Veranstaltung in einem der mitwirkenden Unternehmen beginnen.
[1] Erpenbeck, J.; Sauter, W. (vorauss. Mai 2013) : So werden wir lernen! Kompetenzentwicklung in einer Welt fühlender Computer, kluger Wolken und sinnsuchender Netze, Springer Verlag Heidelberg