Die zehn Irrtümer des Lernens

 „Wat is´ne Dampfmaschin´? Da stelle ma uns mal janz dumm, und sagen, en Dampfmaschin´ iss ne jroße, runde, schwarze Raum mit zwei Löchern. Durch das eine kommt der Dampf rein, un das andere krieje ma späta …“


 Lehrer Bömmel in „Die Feuerzangenbowle“ 1944

Es gibt wohl kaum einen anderen Bereich in unserem privaten und beruflichen Umfeld, in dem sich Mythen und Gewohnheiten so hartnäckig halten, wie in der Bildung. Schließlich erleben wir alle Lernen seit unserem ersten Atemzug, im Kindergarten, in der Schule und Hochschule sowie im Betrieb. Dadurch haben wir alle Handlungsroutinen aufgebaut, die wir im Regelfall auch nur noch selten hinterfragen. Viele neigen dazu, ihre Lernerfahrungen einfach zu kopieren, wenn sie selbst in die Lehrerrolle schlüpfen.

Es gibt deshalb kaum einen Bereich in Gesellschaft und in Unternehmen, der sich notwendigen Veränderungen so stark widersetzt, wie der Bildungsbereich. Dies erklärt auch, warum trotz besseren Wissens immer noch überwiegend die pädagogischen Vorstellungen gelebt werden, die wir alle aus der „Feuerzangenbowle“ kennen, die immerhin vor etwa siebzig Jahren gedreht wurde.

Wir müssen uns deshalb in unserer Praxis regelmäßig mit folgenden zehn Irrtümern (und vermutlich noch mehr…) des Lernens auseinandersetzen, die anscheinend nicht ausgerottet werden können.

  1. Formelles Lernen ist der wichtigste Lernbereich.

Lernen findet in unseren Köpfen auch im 21. Jahrhundert nach wie vor überwiegend im Seminar statt, obwohl wir spätestens seit den Untersuchungen von Livingston wissen, dass in den Betrieben etwa 80 bis 90 % des Lernens informell geschieht (Livingston, D. 1999). Häufig wird die 70/20/10-Regel zitiert, d.h. 70 % des betrieblichen Lernens sind danach Erfahrungslernen in der Praxis, 20 % werden durch Lernpartner, Führungskräfte, Coaches und Mentoren, d.h. im Netz(-werk), initiiert und nur 10 % finden als formelles Lernen in Seminaren oder mit E-Learning statt (Cross, J. 2010) . Die überwiegende Zahl der Lernplaner und Trainer konzentriert sich aber auf die Optimierung der 10 bis vielleicht 20 Prozent des Lernens und überlässt den Transfer in die Praxis weitgehend dem Zufall.

> Es wird ein Lernrahmen benötigt, der informelle Lernprozesse am Arbeitsplatz und im Netz optimal ermöglicht und fördert. Zentral vorgegebene Curricula verlieren ihre Bedeutung.

  1. PISA sagt etwas über die Qualität der Bildung aus.

Über die Qualität von Schule oder Bildung sagt PISA nichts! Diesem Fazit, zu dem die FAZ (2014) kam, kann man leider nur zustimmen.  Was misst PISA eigentlich? Es werden nur die Hauptfächer getestet, nicht die künstlerische Kreativität, Musikalität und auch nicht, wie lange das Test-Wissen in den Köpfen bleibt oder gar, ob die Schüler in der Lage sind, Herausforderungen in ihrem Alltag oder später im Berufsleben sowie an der Hochschule erfolgreich zu bewältigen. Daran ändern auch die ersten, aktuelle Versuche nichts Wesentliches, den Testbereich erstmals mit einfach Übungen in diese Richtung auszudehnen. Im Rahmen der Pisa-Studie wird auf Basis der Klieme-Expertise[ die „Fachlichkeit“ als erstes und wichtigstes Merkmal „kompetenzorientierter“ Bildungsstandards definiert (Klieme, E. u.a. 2007). Tatsächlich misst PISA aber keine Kompetenzen, sondern Wissen und Fertigkeiten, z.B. Rechen- oder Lesefertigkeiten. Diese sind zwar notwendige Voraussetzungen für Kompetenzen im Sinne der Fähigkeit, Problemstellungen erfolgreich zu lösen, aber auch nicht mehr. Damit wird der Kompetenzbegriff pervertiert, weil er extrem und in unzulässiger Weise, eingegrenzt wird.

> Die Lerner müssen die Möglichkeit erhalten, ihre individuellen Kompetenzziele zu definieren, ihre persönlichen Lernprozesse zu gestalten und ihre Kompetenzen zu messen.

  1. Die Gehirnforschung kann bereits heute konkrete Hinweise für die Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen geben.

Der Glaube an die Kompetenz der Hirnforscher in Bezug auf Lernprozesse ist kaum zu erschüttern. Nur so lässt sich der Verkaufserfolg von Manfred Spitzer mit seinem populistischen Buch „Digitale Demenz“, das ich als „Sarrazinierung“ der Bildungsdebatte empfinde, erklären. Gegenstand der Hirnforschung sind nicht, wie Spitzer behauptet, das Lernen, sondern die neuronalen Grundlagen des Lernens.

Die sogenannte „Neurodidaktik“ kann leider bislang kaum Antworten auf unterrichtsmethodische und pädagogische Fragen geben. Die neurobiologische Forschung verfügt zwar über geeignete Methoden, um einzelne Nervenzellen, ihre elektrischen Potenziale, Ionenkanäle oder Rezeptoren zu untersuchen. Die Neurobiologie kennt auch die Funktionen dieser Zellen oder von Teilorganen des Gehirns. Es fehlen aber offensichtlich effektive Methoden, um das Zusammenspiel größerer Populationen von Nervenzellen zu untersuchen. Erst damit wird es möglich sein, Lernprozesse im Gehirn nachzuvollziehen.

Lernen ist im Endeffekt eine Entwicklung der Handlungsweisen der Menschen und damit kein Vorgang, der auf das Gehirn beschränkt ist. Deshalb stützen sich die Gehirnforscher, die meinen, in den populären Medien Lerntipps geben zu müssen, überwiegend auf Ergebnisse der pädagogischen und psychologischen Forschung. Dann sollten wir vorläufig doch lieber auf das Original zurückgreifen.

> Nicht das Gehirn lernt, sondern der Mensch. Deshalb benötigen wir Lernarrangements, die die Menschen mit ihrem Vorwissen, ihrer Aufmerksamkeit und ihren Interessen, aber auch den Kontext, in dem ihr Lernen stattfindet, berücksichtigen.

  1. Man kann Menschen belehren.

Eine strenge Kausalität zwischen Lehren und Lernen kann nicht aufrechterhalten werden (Schüßler 2007). Es ist vielmehr ein Lernen erforderlich, das als selbstorganisierter, konstruktivistischer Aneignungsprozess verstanden wird, also nicht als Aufnahme belehrender, de facto nicht möglicher Wissensvermittlung (Arnold R. 2013). Während noch in den siebziger Jahren auch in der betrieblichen Weiterbildung eine „Belehrungsdidaktik“ mit behavioristischen und kognitivistischen Lehrkonzepten im Seminar im Vordergrund stand, gewinnen seither Lernansätze, mit einer Verlagerung von Wissens- zu Kompetenzzielen, vom formellen und fremdgesteuerten Lehren zum informellem und selbstorganisiertem Lernen und einer Rückbesinnung auf den Lernort Arbeitsplatz sowie das Lernen im Netz an Bedeutung. 

> Es muss eine integrative Bildung („Ermöglichungsrahmen“) angestrebt werden, deren Ziel nicht die „Vermittlung“ von Wissen oder die Erzeugung von Kompetenzen, sondern die Ermöglichung von Kompetenzentwicklung ist  (nach Arnold, R.  2003).

  1. Wissen kann vermittelt werden.

Wissen kann nicht übertragen werden, da es im Gehirn eines jeden Lernenden neu geschaffen werden muss. Wir können deshalb nur „formelles Wissen“ in Form von Informationen zur Verfügung stellen. Der Wissensaufbau jedes Lerners beruht auf Rahmenbedingungen und wird durch Faktoren gesteuert, die unbewusst ablaufen und deshalb nur schwer beeinflussbar sind (Roth, G. 2002).

> Die Lerner benötigen einen Lernrahmen, in dem Ihnen vielfältige Möglichkeiten zur Verfügung gestellt werden, ihr Wissen selbstorganisiert aufzubauen.

  1. Die Lerner entwickeln im Unterricht eigene Erkenntnisse, indem sie Fragen des Lehrers, evtl. verstärkt durch “Impulse”, gemeinsam beantworten.

Bei dieser Unterrichtsmethode ,der “Osterhasenpädagogik” (Wahl, D. 2013), mit der Generationen von Referendaren ausgebildet wurden (oder noch werden?), versteckt die Lehrperson ihr wertvolles Wissen, so wie an Ostern Eier versteckt werden, und die Schülerinnen und Schüler müssen es suchen. Anstatt das erforderliche Wissen verständlich und gut geordnet zu präsentieren oder zur Verfügung zu stellen, wird es angeblich “fragend-entwickelnd” erarbeitet.

Häufig reproduzieren die Lerner dabei ihr Wissen oder versuchen, durch Raten die „Lösung“ zu entwickeln Dabei geht der logisch stringente Weg des Wissensaufbaus verloren, individuelle Lernprozesse werden verhindert oder abgebrochen, weil keine Zeit zum Nachdenken bleibt. Wenn wir dazu berücksichtigen, dass die Lerngeschwindigkeit bei unseren meisten Lerngruppen mit dem Faktor 1:9 differiert, wird dieser Effekt noch dramatisch verstärkt. Der Lehrer oder Dozent führt deshalb im Regelfall ein Fragespiel mit zwei bis drei Lernern durch, die auf seiner „Wellenlänge“ liegen. Der Rest wird entweder gelangweilt oder überfordert.

> Der Lehrer bringt zunächst die wesentlichen Inhalte in eine vernetzte Expertenstruktur (Advance Organizer) , um den Lernern Orientierung zu geben.  Dann präsentiert er sein Wissen  in einem Impulsreferat  oder die Lerner bauen ihr eigenes Wissen selbstgesteuert mit Hilfe von z.B. Web Based Trainings oder Printmedien auf. In einem „Sandwich-Prinzip“ erhalten Sie dazwischen die Möglichkeit, immer wieder ihre Fragen und Überlegungen mit Lernpartnern und dem Trainer zu bearbeiten bzw. in der Praxis anzuwenden

  1. Der Weg vom trägen Wissen zum kompetenten Handeln erfolgt irgendwie schon.

Obwohl niemand ernsthaft bestreitet, dass man „Handeln nur handelnd erlernen kann“, warten die meisten Bildungsverantwortliche auf das „Pflingstwunder“ (Wahl, D. 2013). Sie verlassen sich nämlich darauf, dass das im Unterricht gehörte auch in der Praxis umgesetzt werden kann. Tatsächlich werden z.B. bei Führungsseminaren nur 7 – 8 % des Gehörten in der Praxis angewandt (Kirkpatrick, D.L.; Kirkpatrick, J.D. 2012). Kompetenzentwicklung, und damit die erfolgreiche Umsetzung in die Praxis, ist schließlich nur möglich, indem man herausfordernde Problemstellungen selbstorganisiert und kreativ löst und sein Erfahrungswissen verinnerlicht (Erpenbeck, J., Heyse, V. 2007).

> Selbstorganisierte Kompetenzentwicklung im Prozess der Arbeit und im Netz muss systematisch in das Lernarrangement integriert werden.

  1. Die Berücksichtigung des Lerntyps sowie die Motivation der Lerner durch den Lehrer führt zu einer besseren Lernleistung.

 Es gibt keinen empirischen Nachweis dafür, dass die Einteilung in Lerntypen, z.B. nach Vester, irgendeine Auswirkung auf den Lernerfolg hat. Wahl weist nach, dass die mentalen Strukturen von Person zu Person hochgradig unterschiedlich sind (Wahl, D. 2013). Vermutlich gibt es so viele Lerntypen wie es Menschen. Entsprechend der biografisch durchlaufenen Lernprozesse bilden sich individuelle Lernstrategien heraus. Diese sind von Person zu Person und Situation zu Situation sehr unterschiedlich.

Empirische Untersuchungen zeigen, dass auch die Motivation durch „motivierende“ Einstiegsbeispiele, hoch animierte Web Based Trainings oder Elemente des sogenannten „Gamification“, d. h. der Integration von Spielelementen und Spielmechanismen, mit 0,2 bis 0,3 Korrelation für den Lernerfolg von nachgeordneter Bedeutung ist. Dagegen hat die Expertise bzw. das Vorwissen des Lerners und die direkte Anknüpfung daran eine Korrelation von 0,7, bei einer Skala von 0,0 (kein Zusammenhang) bis 1,0 (vollständiger Zusammenhang).

> Die Lerner müssen die Möglichkeit erhalten, ihre individuellen Lernprozesse, ausgerichtet auf ihr Vorwissen und ihren spezifischen Bedarf, zu gestalten. Wenn der Lerner einen Nutzen für seine täglichen Herausforderungen erfährt,benötigt er keine „künstlichen“ Motivierungsinstrumente.

  1. Zwischen der Zufriedenheit der Lerner am Ende eines Kurses und dem Lernerfolg besteht ein Zusammenhang.

In vielen Seminaren wird am Ende, wenn die meisten schon auf dem Sprung zum Zug oder Auto sind, noch ein Fragebogen ausgeteilt, der angeblich den Lernerfolg dieser Maßnahme bewerten soll. Dabei wird hier lediglich die Stimmungslage zum Ende des Seminars abgefragt. Gute Trainer wissen, wie man die Dramaturgie eines Seminars gestalten muss, um hier zu guten Werten (und damit zu neuen Aufträgen) zu kommen. Meta‐Studien konnten jedoch nachweisen, dass zwischen der Zufriedenheit am Ende eines Kurses und dem Lernerfolg kein Zusammenhang bestehen muss (vgl. Alliger & Janak, 1989; Gessler & Sebe‐Opfermann, 2011). Man kann auch erfolgreich lernen und dabei unzufrieden sein – und umgekehrt.

> Der Lernerfolg ist anhand von Kompetenzzielen und damit über die Arbeitsergebnisse (z.B. mittels Learning Analytics) sowie mit Kompetenzmessungen zu erheben.

     10. Computer können den Lehrer niemals ersetzen.

Die Revolution des Lernens wird durch zwei Sachverhalte ausgelöst, die beide mit der exponentiellen Entwicklung moderner Informationstechnik zusammenhängen. Erstens ist die moderne Informationstechnik zum Treiber der technologischen Entwicklung auf fast allen Gebieten geworden, führt zu Entwicklungsgeschwindigkeiten von Technik und Industrie, Kultur und Politik, die mit klassischem Vorratslernen überhaupt nicht mehr zu beherrschen sind. Zweitens liefert die moderne Informationstechnologie, die immer weniger bloßes Informationswissen und immer mehr kreatives Handlungswissen einschließt, zugleich die Mittel, die neuen Entwicklungen zu beherrschen.

In den nächsten zehn, fünfzehn Jahren werden Computer von Dienern zu Partnern des Menschen, auch zu Partnern im menschlichen Lernprozess. Der „Lernpartner Computer“ wird in naher Zukunft zur Realität. Er entwickelt sich zum Tandempartner in selbstorganisierten Lernprozessen,  der Problemstellungen erfasst, analysiert, bewertet und unter Nutzung des Netzes löst sowie Informationen zur Verfügung stellt. Er hat eigene Meinungen, die er auch kritisch äußert und entwickelt von sich aus Lösungsvorschläge.  Wir müssen deshalb davon ausgehen, dass die Lernsysteme der Zukunft sich fundamental von den heutigen Lernsystemen unterscheiden. Der Lehrer in seiner heutigen Rolle, primär als „Wissensvermittler“ und „Qualifizierer“ wird nicht mehr benötigt.

> Der Lehrer wird nur in seiner heutigen Form nicht mehr benötigt, er wandelt dafür seine Rolle zum „Architekten der Lernlandschaft“ und zum   „Lernbegleiter“.

 

 

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