Manfred Spitzer hat es geschafft. Sein Buch wird in allen Medien heftig diskutiert und verkauft sich prächtig. Obwohl ich bisher nur Ausschnitte des Buches und eine Reihe Rezensionen, ausnahmslos vernichtend, gelesen habe, beschäftigt und ärgert mich dieses Buch, weil es die Vorurteile und Befürchtungen zu innovativen Lernformen verstärkt.
Spitzer hat viel von Sarrazin gelernt. Beide sprechen offene oder versteckte Ängste der Menschen an und verstärken diese durch angebliche Erkenntnisse aus einer Vielzahl von passenden und unpassenden Studien.
Ich maße mir nicht an, die Thesen Spitzers aus der Gehirnforschung zu bewerten. An Manfred Spitzer ist aber offensichtlich die Diskussion über das Lernen in den vergangenen Jahrzehnten spurlos vorbei gegangen. Wenn er vom Lernen spricht, egal ob in den gelesenen Ausschnitten oder in seinen Interviews und Talkshows, benutzt er als Lernbeispiele das Merken von Telefonnummern oder das Abspeichern von Wegstrecken. Sein Lernbegriff ist offensichtlich auf die Wissensspeicherung begrenzt. Dass Lernen vor allem aber Qualifizierung und Kompetenzentwicklung bedeutet, scheint ihm entgangen zu sein.
Lernen ist im Endeffekt eine Entwicklung der Handlungsweisen. Es ist damit kein Vorgang, der auf das Gehirn beschränkt ist. Nicht das Gehirn lernt, sondern der Mensch. Er nutzt sein Gehirn, um Lernprozesse zu ermöglichen. Ich habe den Eindruck, dass die Neurowissenschaft uns heute noch sehr wenig darüber sagen kann, wie das Gehirn Wahrnehmungen und Informationen verarbeitet, wie Emotionen und Denkprozesse entstehen und wie Erfahrungen interiorisiert werden, d.h. wie Kompetenzlernen tatsächlich stattfindet. Deshalb empfinde ich es als sehr anmaßend, sich als Psychiater und Hirnforscher befähigt zu fühlen, der gesamten Nation Lernen mit wissenschaftlicher Anmutung zu erklären.
Dabei gibt es von Lernforschern und Pädagogen weltweit vielfältige Erfahrungen mit Konzeptionen, die Kompetenzlernen ermöglichen. Ein wesentliches Merkmal dieser Ansätze ist im Regelfall, dass für die Beschaffung des Wissens, aber auch für die Qualifikation und vor allem die Kommunikation, wie in der täglichen Arbeit, Computer genutzt werden. Die Lerner werden dadurch befähigt, die notwendigen Voraussetzungen für ihr Lernen selbst zu schaffen. Dadurch werden Lernprozesse auf einer erheblich höheren Lernzielebene ermöglicht. Computer sind also im Lernbereich wie im Arbeitsleben unverzichtbar. In wenigen Jahren wird der Computer zum Lernpartner der Menschen werden, der es ihnen ermöglicht, ihre Lernprozesse effizient und kreativ zu gestalten. Darauf müssen wir uns schon in den heutigen Lernsystemen einstellen, um die erforderlichen Kompetenzen für einen sinnvollen Umgang mit dem Computer im Lernbereich zu entwickeln.
In einer Welt, die durch die Computernutzung in nahezu allen privaten und beruflichen Bereichen geprägt ist, haben wir die Pflicht, unsere Kinder, aber bei Bedarf auch erwachsene Lerner, an einen sinnvollen Umgang mit diesen Systemen heranzuführen. Es geht also nicht um die Frage, ob Medienkompetenz bereits bei Kindern entwickelt werden soll, sondern wie dies am besten erfolgen kann. Es ist deshalb zu hoffen, dass durch Spitzer eine Diskussion angestoßen wird, die dieser Frage nachgeht.