Digitalisierung ist das neue Zauberwort. Wir haben es mit einer gewaltigen Veränderung der menschlichen Produktivkräfte zu tun. Der Revolution der Werkzeuge folgte eine sich ständig beschleunigende Revolution der Denkzeuge. Diese Revolution erfordert Menschen mit Fähigkeiten, Entwicklungen selbstorganisiert und kreativ mit zu gestalten, d.h. kompetente Menschen. Je schneller sich Handlungsziele, Handlungsmethoden und das explodierende Wissen ändern, desto mehr werden Menschen gefragt sein, die in diesem Chaos der offenen Möglichkeiten neue Ideen entwickeln und über Fähigkeiten verfügen, darin selbstorganisiert und kreativ zu handeln.
Die Digitalisierung führt zu einem radikalen Wandel des Lernens. So weit sind sich Pädagogen und Personalverantwortliche weitgehend einig. Wie sie ihn gestalten können, darüber sind sie vollkommen verschiedener Meinung. Grundsätzlich ergeben sich aus der Digitalisierung folgende Konsequenzen[1]:
- Das menschliche Handeln in den Sphären der Politik, der Arbeit, der Wissenschaft, der Kultur wird durch die Digitalisierung in allen Bereichen unterstützt und vorangetrieben, zugleich wird immer deutlicher, dass die in Selbstorganisation und Chaos begründete Unvorhersehbarkeit mit jedem Aspekt der Welt, in der wir leben, fest verdrahtet ist. Um in dieser Welt zu handeln benötigen wir mehr denn je Fähigkeiten, selbstorganisiert und kreativ zu handeln. Digitalisierung erfordert Kompetenzentwicklung.
- Dass wir fähig sind, selbstorganisiert und kreativ – also kompetent – zu handeln (und nicht nur: uns zu verhalten), dass wir in objektiv offenen materiellen und ideellen Problemsituationen immer neue, überraschende Lösungswege finden, resultiert aus der Tatsache, dass auch unser Gehirn ein selbstorganisierendes System darstellt, das immer neue kognitive Herausforderungen bewältigt. Äußere Selbstorganisation wird durch innere Selbstorganisation gemeistert.
- Die Modellierung des Gehirns durch die Selbstorganisationstheorie zeigt, dass Lernen nicht einfach Informationsübertragung und –anhäufung darstellt, sondern – wenn man Ordner als Werte interpretiert – Informationen immer zugleich mit emotionalen Bewertungen, mit Werten zusammen gespeichert werden. Emotionen wirken als Kontrollparameter der Gedächtnisformung, vom Anfang bis zum Ende. Sie aktivieren qualitativ unterschiedliche Gedächtnisinhalte, emotionale Erfahrungen merken wir uns besonders gut, denn über Emotionen bewerten wir unsere Erfahrungswelt nach dem Kriterium ‚relevant – irrelevant’. Moderne neurobiologische Forschungen zeigen, dass im Gehirn eine untere limbische Ebene, eine mittlere limbische Ebene und eine obere limbische, sozial – emotionale Ebene zusammenwirken. Eine vierte, die kognitiv – sprachlich – rationale Ebene hat von sich aus keinen Einfluss auf unser Handeln und damit auf unsere Kompetenzen, sondern immer nur in Verbindung mit den anderen Ebenen. Worte sind nicht ganz unnütz, aber sie alleine bewirken nichts sondern immer nur in Verbindung mit bewussten Emotion und noch besser mit unbewussten Emotionen.
- Die Digitalisierung führt zu einem exponentiellen Anwachsen des Weltwissens, weil sie in immer umfassendere und tiefere Bereiche vordringt. Zum anderen vermehrt sich aber auch das Wissen über den Umgang mit den Techniken und Möglichkeiten der Digitalisierung selbst exponentiell. Das kann und darf jedoch nicht dazu führen, dass immer mehr Weltwissen und Digitalisierungswissen in die Köpfe von Lernenden gestopft wird. Notwendig ist vielmehr ein durchgängig anderer Umgang mit Wissen, das zur Kompetenzerweiterung führen soll. Es muss durchgehend emotional „imprägniert“, es muss von „Wissen an sich“ zu „Wissen für uns“ werden. Das lässt sich, ganz im Sinne der Hirnforscher Hüther und Roth, nur erreichen, wenn im Lernprozess die Aktivierung von Emotionen durch emotionale Anstöße, Irritationen , Labilisierungen[2] erreicht wird; ein Konzept das besonders die Ermöglichungsdidaktik verfolgt.[3] Zu eigenen Emotionen verinnerlichte Werte (Wertungen) sind die Kerne von Kompetenzen.
- Hier lässt sich die Frage anschließen, welche physischen, psychischen und sozialen Prozesse für Menschen derart relevant sind, dass sie zu wirkungsvollen emotionalen Anstößen, Irritationen und Labilisierungen führen. Das sind neben sachlichen und fachlichen Problemen, kritischen politischen, sozialen und ökonomischen Situationen natürlich vor allem solche, die auf dem Zusammenwirken von Menschen in Kommunikation, Kooperation und Konflikt.
- Der Konnektivismus des Georg Siemens geht von der Tatsache aus, dass die Halbwertszeit des sich explosiv vermehrenden Wissens immer kürzer wird. Damit werden die Lernzeiten immer länger, lebenslang zuweilen, die Lernwege immer vielfältiger. In diese Lernwege sind die modernen Kommunikationstechnologien voll eingeschlossen. Es wird immer wichtiger, nicht nur das „was“ des Wissens und das „wie“ der Wissensverarbeitung, sondern auch das „wo“ der Wissensfindung zu kennen. Dieses „wo“ zu erschließen ist aber bei weitem nicht nur ein technisches Problem, das sich mit Datenbanken, Clouds und MOOC lösen lässt. Es ist vor allem ein sozial-kommunikatives Problem, denn Lernen basiert auf ganz unterschiedlichen, vorbewerteten Informationen und Ansichten, auf Meinungen, die nur durch Aufrechterhaltung und Pflege der Verbindungen zu den wichtigsten Netzwerken und Informationsquellen, zu anderen Menschen und Mitarbeitern erschlossen und genutzt werden können. Und das heißt, dass die Informationen, Theorien, Meinungen und Wertungen nicht einfach als objektive Fakten aufgenommen werden, sondern ein dynamisches Lernfeld darstellen, in dem sich der Lerner wissend und wertend positioniert: „Wohin wende ich meinen Blick, mit welcher Grundlage beschäftige ich mich – obwohl dieses Wissen in naher Zukunft schnell überholt sein kann?…Von hier ausgehend kann sich das Individuum selbstorganisierte und -gestaltete Lernumgebungen schaffen, die den eigenen Bedürfnissen entsprechen und das eigene Wissen vertiefen und vermehren.“ [4] Die Benutzung der modernen digitalen Medien führt auch zu ganz neuen Formen des Umgangs mit anderen Menschen. Niemand kann das für eine komplizierte Problemlösung notwendige Wissen in sich vereinen, er muss es mit anderen inhaltlich wie emotional teilen, er muss Wissen und Wertungen gleichermaßen kommunizieren, selbst wenn das letztlich zu einem „wertfreien“ Wissen führt. Die Konnektion ist deshalb ein oft hoch emotionaler, das ausgetauschte Wissen stark „imprägnierender“ Prozess – ob es sich nun um die Kommunikation zwischen zwei Personen, etwa in Form eines „Lerntandems“, in einem Team, einem Unternehmen oder auch in Netzwerken wie Twitter handelt.
In den nächsten zwei Jahrzehnten werden humanoide Computer von Dienern zu Partnern des Menschen, auch zu Partnern im menschlichen Lernprozess. Der Lernpartner Computer wird in naher Zukunft zur Realität. Bald stehen Großrechner mit der Kapazität des menschlichen Gehirns zur Verfügung. Schon in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts wird es massenhaft in Clouds verankerte Computer und Computersysteme geben, die diese Kapazität besitzen. humanoide Computer werden Tandempartner in selbstorganisierten Lernprozessen. Das Lernen in und mit solchen Systemen verändert alle unsere Lerngewohnheiten in dynamischer Form. Die Anforderungen an Bildungsplaner und Lernbegleiter und vor allem an die Lerner selbst verändern sich grundlegend und mit wachsender Geschwindigkeit. Gleichzeitig wandeln sich Handlungs- und Lernroutinen, die teilweise über Jahrzehnte angeeignet wurden, nur sehr langsam.
Es wird spannend sein zu beobachten, wie sich die Bildungslandschaft in den kommenden Jahren verändern wird. Man muss sich auf jeden Fall schon jetzt auf die absehbaren Veränderungen im Lernbereich einstellen, um die beteiligten Lehrer, Dozenten, Führungskräfte, Personalentwickler, Trainer und vor allem die Lerner rechtzeitig auf die Lernsysteme der Zukunft vorbereiten.
Zukünftig wird nicht mehr die Technologie, sondern der Mensch der limitierende Faktor in den Lernsystemen sein.
[1] Vgl. im Folgenden Erpenbeck, J. (2016 in Arbeit): Selbstorganisation, Neuropsychologie und Werte, in: Erpenbeck, J.; Sauter, W. (Hrsg.) (2016 in Arbeit): Kompetenzentwicklung im Netz, Stuttgart
[2] Im emotionalen Sinne Erleben und Bewältigen von Dissonanzen, d.h. Zweifeln, Widersprüchlichkeiten oder Verwirrungen, so dass neue Lösungsmuster entstehen.
[3] vgl. Arnold, R., Erpenbeck, J. (2014)
[4] Friedel, N. (2013), 2016 zit. nach: http://www.nilsfriedel.com/2013/10/19/konnektivismus-die-lerntheorie-fur-das-lernen-in-medialen-welten/