Dieses Jahr werden vermutlich mit weit über 500.000 Studienanfängern erstmals mehr Schulabgänger an die Hochschulen als in eine duale Ausbildung gehen. Ich kenne beide Seiten der dualen Ausbildung sehr gut, einmal aus über zehn Jahren als Berufsschullehrer in der Bankausbildung sowie als Personalentwicklungsleiter mit der Verantwortung für etwa 500 Auszubildende. Dabei habe ich erfahren, zu welchen beeindruckenden Leistungen dieses Ausbildungssystem fähig sein kann, wenn es sich konsequent am Bedarf der Unternehmen orientiert. Gerade deshalb will ich das System der dualen Ausbildung unter dem Aspekt der aktuellen Entwicklungen des betrieblichen Lernbedarfes kritisch hinterfragen.
Das Erfolgsmodell duale Berufsausbildung ist zwiespältig.[1] Der Wissensaufbau und die Qualifizierung einerseits und die Kompetenzentwicklung im Ausbildungsbetrieb andererseits werden nach diesem Prinzip zwischen Berufsschule und Ausbildungsbetrieb aufgeteilt. Im Berufsschulunterricht wird das Fachwissen nach Curricula, die teilweise mehr als zwei Jahrzehnte alt sind, meist im „klassischen“ Frontalunterricht, kombiniert mit Übungsphasen und Hausaufgaben durch eher theorieorientierte Lehrer dargeboten. Manche Betriebe, die dieser Qualifizierung nicht vertrauen, wiederholen diesen Frontalunterricht dann nochmals in eigenen Seminaren, dem sogenannten„Lehrlings-Unterricht“.
Die Praxisausbildung und damit die Kompetenzentwicklung finden weitgehend losgelöst von diesen Qualifizierungsmaßnahmen statt. Gegen Schluss der Berufsausbildung wird das Ergebnis mit einer meist stark wissensorientierten schriftlichen und mündlichen Prüfung vor der IHK getestet. Viele Ausbilder bzw. Führungskräfte messen Ihren Erfolg nach wie vor an diesen Prüfungsergebnissen, obwohl sie nahezu nichts über die Kompetenzen der Absolventen aussagen.
Paradox daran ist, dass Berufsschullehrer, Ausbilder und auch viele Ausbildende genau wissen, dass heute für Berufe ausgebildet wird, die es in der aktuellen Form in zehn Jahren gar nicht mehr gibt, dass die meisten Auszubildenden dann Berufe ausüben werden, die wir heute noch gar nicht kennen, dass von gelerntem Vorrats-Fachwissen am Ende der Ausbildung mindestens fünfzig Prozent veraltet sind und außerdem Informationswissen zu höchstens acht Prozent überhaupt in der Praxis angewandt wird. Kompetenzen hingegen, als erworbene Fähigkeiten selbstorganisiert und kreativ zu handeln, insbesondere im beruflichen Bereich, sind direkt verwertbar, bleiben weit über die Erwerbszeit hinaus bestehen und sind in andere, heute noch nicht bekannte beruflichen Handlungsfelder mit Gewinn übertragbar, so dass sie den Einstieg in neue berufliche Herausforderungen ermöglichen.
Die Rahmenbedingungen der dualen Ausbildung und insbesondere das Prüfungssystem der Kammern verhindern konsequent kompetenzorientierte Ausbildungskonzeptionen. So klagen Unternehmen, die versuchen, ihre Auszubildenden in einem selbstorganisierten, kompetenzorientierten Lernarrangement auszubilden, darüber, dass die Kultur des eigenverantwortlichen Lernens in ihrer Ausbildung immer wieder drastisch beeinträchtigt wird, wenn diese in der Berufsschulphase fremdgesteuerten Unterricht erfahren. Es ist auch nicht zu erwarten, dass die Kammern und vergleichbare Einrichtungen, trotz besseren Wissens, ihre lukrativen Prüfungssysteme zugunsten eines kompetenzorientierten Ausbildungsansatzes aufgeben werden.
Limitierender Faktor einer bedarfsgerechten, innovativen Berufsausbildung ist weniger der Mangel an Bereitschaft von Unternehmen, ein kompetenzorientierte Ausbildungssysteme einzuführen, als vielmehr die juristische Absicherung sinnvoller Kompetenzeinschätzungen. Dabei bietet sich die Zielgruppe junger Auszubildender für ein innovatives Lernkonzept besonders an, weil unsere Erfahrungen zeigen, dass gerade diese Zielgruppe sehr offen für innovative Lernlösungen ist und einen Ermöglichungsrahmen ohne große Barrieren nutzt.
Deshalb besteht die Lösung des Dilemmas der dualen Ausbildung unter den heutigen, wohl kaum zeitnah veränderbaren, Rahmenbedingungen, darin, formale Anforderungen einer wissensorientierten –Kammer-Abschlussprüfung ( „Web 1.0 Welt“) mit zunehmenden Anforderungen im Bereich der Kompetenzentwicklung („Web 2.0 – Welt und höher“) zu verknüpfen.
Es steht den Unternehmen trotz der Rahmenpläne in der Ausbildung offen, ihre betriebliche Praxisausbildung konsequent kompetenzorientiert zu gestalten sowie den Wissensaufbau bzw. die Qualifizierung in die Eigenverantwortung und Selbstorganisation der Auszubildenden zu legen. Hierfür haben sich in unseren Projekten Blended Learning Konzeption in hohem Maße bewährt.[2] Auch in der praktischen Berufsausbildung im Betrieb werden die bisherigen Unterweisungen („Lehrlingsunterricht“)nunmehr durch ein Social Blended Learning Konzept ersetzt, das auf selbstgesteuerten, kooperativen Lernprozessen der Auszubildenden im Rahmen von Praxis- und Projektaufgaben basiert.
Auch das (Neben-)ziel einer überzeugenden IHK-Abschlussprüfung wird mit Hilfe dieses Lernkonzeptes optimal erreicht, weil die Auszubildenden sich mit E-Learning selbst überprüfen und ihre Wissenslücken damit gezielt füllen können. In den Fällen, in denen die Themen in der Berufsschule nicht mit der Praxisausbildung harmonieren, so dass einzelne Auszubildende das notwendige Wissen für einzelne Phasen der Praxisausbildung noch nicht besitzen, können sie sich ihr Wissen auch selbstorganisiert erarbeiten. Damit wird ein flexibler Freiraum für die gezielte Vorbereitung der Auszubildenden für die Herausforderungen in der Praxis geschaffen.
Die Lernprozessorganisation, insbesondere der Ermöglichungsrahmen, wird bei realistischer Betrachtung durch die betriebliche Ausbildung gestaltet werden müssen. Damit stellt sich zum Schluss die Frage, welche Rolle die Berufsschule, die der Gesetzgeber zwingend vorschreibt, zukünftig übernimmt. Wenn ich ein bisschen träumen darf, dann sehe ich die Berufsschule als den überbetrieblichen Gestalter des genannten Ermöglichungsrahmens für den formellen Teil der Ausbildung, der es den Auszubildenden ermöglicht, Ihr Fachwissen und ihre Qualifikation selbstorganisiert, unter der Begleitung der Berufsschullehrer in unternehmensübergreifenden Netzwerken aufzubauen. Die Berufsschule wird damit zu einem offenen Lernraum, in dem die Auszubildenden ihre Herausforderungen im formellen Lernbereich gemeinsam mit ihren Lernpartnern, in Lerngruppen sowie dem Lernbegleiter, d.h. dem Berufsschullehrer , aber auch in den einzelnen themenbezogenen Communities, gezielt nach ihrem individuellen Bedarf bearbeiten können. Auf dieser Basis könnten dann die Ausbildungsbetriebe ihre interne, kompetenzorientierte Praxisausbildung gezielt gestalten.
Sollten sich die Berufsschulen nicht in diese Richtung entwickeln, sehe ich sie zukünftig als zunehmenden Ballast für die berufliche Ausbildung. Nicht nur die Betriebe, viel mehr noch die Berufsschulen, benötigen deshalb eine Revolution ihres Bildungssystems.
[1] Vgl. Hoffmann-Cadura, S. (2011)
[2] vgl. Lohmann, M., Sauter, W. (2012), S. 54 ff.