Hartmut Barthelmeß hat vor einiger Zeit ein sehr engagiertes Buch mit dem etwas irreführenden Titel „E-Learning – bejubelt und verteufelt“ veröffentlicht.[1] In diesem Werk untersucht er, nicht nur aus dem Blickwinkel eines Informatikers, wie sich die Rahmenbedingungen des Lernens verändern und welche Konsequenzen dies für die Lernsysteme, die Lern-Infrastruktur sowie das Management von Bildungsorganisationen und das Management von E-Learning Projekten hat. In einer Rezension habe ich die wesentlichen Kernpunkte seiner Schrift zusammen gefasst, die ich für sehr nachdenkenswert erachte.
Die eigenen Lebensbereiche, aber auch die betriebliche Arbeits- und Lernwelt, verändern sich aufgrund der globalen Digitalisierung mit zunehmender Dynamik. Dies hat direkten Einfluss auf die betrieblichen Lernsysteme. Hartmut Bartelmeß untersucht diese Konsequenzen der Digitalisierung und Globalisierung für das Lernen. Dabei konzentriert er sich auf den Bereich des E-Learning, das er in einer weiten, aktuellen Definition fasst. Darunter versteht er eine Applikation der Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT), die zur Digitalisierung des gesamten Bildungsbereiches, einschließlich der Bildungsgeschäftsprozesse, der Bildungsinfrastruktur, der Kommunikation, des Wissens und der Vielzahl von Prozessen in Lehren und lernen führt.
Warum sind Großunternehmen beim Einsatz von E-Learning bisher deutlich erfolgreicher als Schulen, Hochschulen und mittelständische Unternehmen? Der Autor geht der Frage nach, welche Vorgehensweisen in Bildung und Weiterbildung notwendig sind, um E-Learning als integralen Bestandteil von Bildungsprozessen zu etablieren. Sein besonderes Augenmerk liegt darauf, E-Learning-Anwendungen personalisiert aus Sicht der Lernenden zu entwickeln. Gleichzeitig sollen Dialog, soziale Kommunikation und Wissensbereitstellung mithilfe digitaler Medien intensiviert werden, statt die Lernenden sich selbst zu überlassen. Die Herausforderung besteht darin, E-Learning in bestehende, historisch gewachsene Strukturen zu integrieren.
In der Hinführung leitet der Autor die zentralen Fragen für Bildungsanbieter bei der Einführung von E-Learning ab. Welche Faktoren bewirken heute eine Veränderung unserer Lernsysteme, der Arbeits- und Lernformen sowie der Kommunikation? Welche Konsequenzen hat dies für die Annahmen und Modelle zum Lernen, Lehren und zur Kommunikation? Wie sieht heute die typische Lernbiographie aus, mit welchen unterschiedlichen Kommunikations-, Lern- und Sozialräumen werden die Lerner konfrontiert? Wie lernt man lebenslanges, selbstverantwortliches und selbstbestimmtes Lernen möglichst früh? Wie muss sich das Management von Bildungsprozessen verändern?
Danach bewertet der Autor die aktuelle Situation des E-Learning, insbesondere auch unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit. Was kann die Hochtechnologie wirklich leisten, welche Rahmenbedingungen sind zu beachten und welche Wirkungszusammenhänge zwischen der Organisation eines Bildungsanbieters und Prozessen des Wissensaufbaus, der Lehre und des Lernens gibt es? Bezogen auf Studierende erörtert er auch die Merkmal der „Digital Natives“, die er als weltoffen, gut ausgebildet, mehrsprachig, selbstbewusst, sozial, kooperativ, kommunikativ und unternehmerisch charakterisiert. Dies wirkt wie eine unzulässige, stark überzeichnete Generalisierung der Eigenschaften junger Menschen. Entscheidend für die Akzeptanz von innovativen Lernsystemen ist nach den bekannten Untersuchungen, z.B. von Rolf Schulmeister, weniger die jeweilige Generation der Lerner, sondern deren Mediennutzung. Deshalb werden differenzierte, zielgruppengerechte Lernkonzeptionen benötigt.
Im folgenden Abschnitt entwickelt der Autor sehr schlüssig einen Ansatz der Konzeptentwicklung für E-Learning, der sich an folgenden Grundsätzen orientiert:
- Eigenverantwortung und Selbstbestimmung fordern und fördern
- Wissensaufbereitung, – vermittlung und –aneignung anders managen
- Soziale Kommunikation und Interaktion von Wissen fördern
- Bildungsverwaltung und –infrastruktur optimieren
Damit wird deutlich, dass sich E-Learning nicht nur auf die Entwicklung von Web Based Trainings reduziert, sondern vielmehr ein umfassendes, bedarfsgerechtes Lernarrangement und Bildungsmanagement benötigt. Zentral vorgegebene Lernprozesse mit einheitlichen Curricula erfüllen diese Anforderungen überhaupt nicht.
In diesem Kontext spielt die Emanzipation der Lernenden in Form selbstgesteuerter und –organisierter Lernprozesse eine zentrale Rolle, da sie nur dann ihre Lernprozesse entsprechend ihrem individuellen Lernhandeln und ihrer Erfahrung gestalten können. Dabei helfen Versuche der Klassifizierung, wie der vorgestellte Ansatz von Gunter Dueck, nur begrenzt. Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass es genau so viel Lerntypen wie Lerner gibt; jeder lernt individuell. E-Learning kann diese Entwicklung unterstützen.
Leider wird von dem Autor dabei der zentrale Aspekt der Lernziele auf den Ebenen des Wissens, der Qualifikation oder gar der Kompetenzen nur gestreift. Auch der Versuch, die Rolle von Werten im Rahmen der Kompetenzentwicklung zu beschreiben, geht fehl, weil diese vom Autor ausschließlich als gemeinsam formulierte Werte verstanden werden, während sie im Rahmen der Kompetenzentwicklung nur selbst handelnd, selbst organisiert auf Basis eigener Praxis- oder Projekterfahrungen angeeignet werden können und dabei kompetentes Handeln konstituieren.
Im folgenden Kapitel geht der Autor stärker auf den Wissensbegriff ein. Dabei beschränkt er sich auf Wissen im „engeren Sinn“, d.h. Informations-, Fach- und Sachwissen („Wissen was“), aber auch motivatorisches Wissen ( = “wissen warum“) und prozedurales Wissen (=“wissen wie). Er berücksichtigt jedoch nicht das Wissen im „weiteren Sinne“, das für die Kompetenzentwicklung am Arbeitsplatz die Voraussetzung bildet. Dieses entsteht, wenn die Menschen Informationen wahrnehmen, bewerten und mit subjektiven Erfahrungen in Beziehung setzen. Im weiteren Sinne wird das Wissen deshalb um Regeln, Werte, Normen, Kompetenzen und Erfahrungen, aber auch Emotionen und Motivationen, erweitert. Diese Erweiterung des Wissensbegriffes prägt den Austausch in Communities of Practice, die im aktuellen Verständnis des E-Learning in Form von Social Learning eine zentrale Rolle spielen.
Wissen kann nicht einfach übertragen werden; es muss im Gehirn eines jeden Lernenden neu geschaffen werden. Wissen lässt sich deshalb nicht „vermitteln“, nicht einfach weitergeben, wie es so häufig formuliert wird, es sei denn, man glaubt an die Wirksamkeit des Nürnberger Trichters. Dagegen kann Wissen aber durch die Lerner selbstorganisiert aufgebaut werden.
Eine besondere Bedeutung in Lernprozessen im Rahmen von E-Learning Arrangements kommt der zwischenmenschlichen Kommunikation zu, die der Autor in einem weiteren Kapitel intensiv beleuchtet. Lernen ist ohne menschliche Kommunikation undenkbar. Diese ist mehrdeutig und kann erst durch die Einbeziehung des kulturellen und gesellschaftlichen Kontextes eindeutig werden. Diese hochkomplexen Deutungen hängen dabei von den Erfahrungen der Lernenden und ihrem Kontext ab. Die Lernsysteme benötigen deshalb Kommunikations-Tools, die kooperative und kollaborative Lernprozesse im Netz ermöglichen.
Die Ermöglichung selbstorganisierter E-Learning Prozesse erfordert ein digitale Bildungsinfrastruktur, die eine wesentliche Rolle für die Akzeptanz dieser Lernkonzeptionen bilden. Dienstestruktur, Usability, Identitätsmanagement und Qualitätssicherung haben entscheidenden Einfluss auf die integrative und effiziente Konfiguration einer digitalen Bildungsinfrastruktur. Der Autor fordert eine gemeinschaftlich zu nutzende IKT-Infrastruktur, die er als gesellschaftlich-politische Aufgabe sieht, die nicht nur dem Markt überlassen werden darf. In diesem Rahmen muss aber jede Bildungsinstitution gemäß ihrer Lernkonzeption eine eigene Infrastruktur schaffen.
Lernarrangements, die auf der Selbststeuerung und –organisation der Lerner aufbauen, erfordern grundlegend veränderte Bildungsorganisationen. Der Autor sieht dabei die Digitalisierung von Wissen und dessen Verteilung über das Intranet nicht als Problemstellung, sondern als Lösung für die aktuellen Herausforderungen. Er gibt eine Vielzahl von Anregungen, wie Bildungsorganisationen zukünftig gemanagt werden können. Leider sind die Beharrungskräfte, insbesondere im staatlichen Bildungsbereich, nahezu unüberwindbar. Die notwendigen Veränderungsprozesse werden blockiert, es mangelt an der offenen interdisziplinären Diskussion zur Strategiefindung.
Diese Managementdefizite setzen sich im Management von E-Learning Projekten fort. Es mangelt an klaren Aufgaben, häufig wird der didaktisch-methodische Entwicklungsprozess, in dem Ziele und die daraus abgeleiteten Inhalte definiert werden, übersprungen. Eine E-Learning-Anwendung zu managen erfordert andere Kompetenzen als in der Lehre
Im abschließenden Fazit fordert der Autor, dass Universitäten im Prozess der Veränderung der Wissenssysteme wieder eine führende Rolle übernehmen, die sie verloren haben. Weiterhin beklagt er, dass eine kritische Gesamtsicht auf den Bildungsbereich fehlt. Was müssen Bildungsorganisationen in ihrer Abhängigkeit und Vernetzung zum politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umfeld beachten?
Er plädiert dafür, nicht nur selektiv einzelne Komponenten technologisch mittels E-Learning zu unterstützen, sondern jeweils die Wirkungen auf die gesamte Bildungsorganisation mit einzubeziehen. Die Lernkonzeptionen müssen konsequent auf der Individualität der Lerner aufbauen. Daraus leiten sich dann auch die Anforderungen an die Infrastruktur und das Management ab. Negieren die Bildungsorganisationen diese Entwicklungen, werden die Unternehmen und die Lerner, wie es bereits heute teilweise geschieht, eigene Wege gehen. Deshalb sind grundlegende Veränderungsprozesse im Bildungsbereich notwendig.
Fazit
Der Autor spannt bei seinen Ausführungen zum E-Learning einen breiten Bogen, von den Veränderungen der Rahmenbedingungen über die Gestaltung von innovativen Lernsystemen bis hin zum Bildungsmanagement und gesellschaftlich-politischen Diskussionsprozessen, die erforderlich sind. Damit gelingt es ihm sehr anschaulich, den Bereich des E-Learning in seiner umfassenden Bedeutung zu analysieren und zu bewerten, zeigt aber auch konkrete Lösungswege auf.
E-Learning bedeutet ein Umdenken im gesamten Bildungsbereich. Die Herausforderung liegt in der Integration von E-Learning in die historisch gewachsenen Strukturen. E-Learning-Anwendungen müssen personalisiert aus Sicht der Lernenden entwickelt werden. Gleichzeitig sollen Dialog, soziale Kommunikation und Wissensbereitstellung mithilfe digitaler Medien intensiviert werden, statt die Lernenden sich selbst zu überlassen.
Sehr positiv habe ich empfunden, dass er sich als Informatiker nicht nur auf diesen Blickwinkel beschränkt hat, sondern eine sehr gut nachvollziehbare Anleitung zur Gestaltung von E-Learning Konzeptionen im aktuellen Sinn entwickelt hat. So arbeitet er sehr anschaulich die Notwendigkeit heraus, aufgrund der veränderten Rahmenbedingungen individuelles sowie selbstgesteuertes und –organisiertes Lernen zu fördern und die Möglichkeiten der Kommunikation im Netz systematisch in die Lernprozesse zu integrieren.
Es spricht sehr klar und deutlich offene Flanken unseres gesellschaftlichen Bildungssystems, der Institutionen, insbesondere aber auch die verloren gegangene Rolle der Hochschulen als Orientierung für die Gestaltung von Bildungssystemen an. Deshalb ist diesem Buch zu wünschen, dass es in allen Bereichen der Bildung einen Diskussionsprozess über die notwendigen Veränderungsprozesse initiert.
[1] Hartmut Barthelmeß (2015): E-Learning – bejubelt und verteufelt. Lernen mit digitalen Medien, eine Orientierungshilfe. Bielefeld