Ein Briefwechsel, der sich zu lesen lohnt.

Rolf Arnold und John Erpenbeck haben sich fast ein Jahr lang gegenseitig Briefe geschrieben, die nun in einem kleinen Buch mit dem Titel „Wissen ist keine Kompetenz“[1] gelesen werden können. Nachdem sowohl Rolf Arnold mit seinem Ansatz der „Ermöglichungsdidaktik“ als auch John Erpenbeck im Bereich der Kompetenzmessung und –entwicklung richtungsweisende Beiträge zur aktuellen Bildungsdiskussion geleistet haben, habe ich dieses, von der Methodik her auf den ersten Blick eher antiquiert wirkende Werk, mit sehr hoher Erwartung gelesen. Und ich wurde nicht enttäuscht. Naturgemäß kann ich in diesem Blog nicht auf alle Diskussionspunkte auf den 114 Seiten eingehen. Folgende Aspekte fand ich aber besonders spannend und anregend.

Gleich in seinem ersten Brief arbeitet Rolf Arnold heraus, welche vielfältigen Perspektiven uns durch ein modernes Kompetenzdenken eröffnet werden. Gleichzeitig wendet er sich gegen die weit verbreitete Illusion der Wissens“vermittlung“, die de facto nicht möglich ist, auch wenn die deutsche Paukschule nunmehr schon 150 Jahre besteht. Erpenbeck glaubt, dass die meisten Pädagogen trotzdem daran festhalten, weil diese „Wissensvermittlung“ besser zu planen und kontrollieren ist.

Arnold verdeutlicht mit klaren Worten, dass die Schulleistungsforscher im Kontext von PISA (Klieme 2007) 15 Jahre verspätet, ohne Bezugnahme auf die vorhergehenden Forschungen zur beruflichen Handlungskompetenz, starteten. Erstaunlich fand ich, dass er diese selektive Rezeption zwar für ärgerlich, aber vielleicht menschlich und damit unvermeidbar ansieht. Ich finde seine Haltung ehrenwert, bezweifle aber, ob es wirklich gerechtfertigt werden kann, Generationen von Schülern auf Basis eines Kompetenzbegriffs zu entwickeln, der sich auf die kognitive Leistungsfähigkeit beschränkt.

Erpenbeck greift in einem seiner Briefe die absurden Vorstellungen von Klieme & Co. später nochmals mit für ihn überraschend drastischen Worten auf, indem er als  Physiker deren DFG–Abschlussbericht „Physiklernen mit Modellbildungssystemen“ analysiert: „Wer in solchem Sinne physikalische Kompetenz erwirbt, muss einen Riss in der Schüssel haben, zumindest aber von allen guten Physikgeistern verlassen sein“. Er kritisiert ein völliges Verkennen der für einen Physiker wirklich wichtigen Kompetenzen. Wie gerne hätte ich in der Schule einen Unterricht besucht, der durch folgende Leitlinien geprägt ist, die John Erpenbeck in seiner ihm eigenen Art formuliert: „Persönliche Freude und Neugier an den Geheimnissen der physikalischen Natur, Aktivität und zähes Durchhaltevermögen bei der Gestaltung und Durchführung neuer, offener Experimente und Öffnung für die Neuigkeit und das Unerhörte klassischer Experimente, die Fähigkeit, mit physikalischen und mathematisch-methodischem Wissen neuartige Problemlösungen auch für ganz andere Denkbereiche zu entwickeln und die Lust an der gemeinsamen Entdeckung und am kameradschaftlichen Herangehen an gemeinsam zu Erreichendes…“

Arnold bewertet die Überschätzung des „Vermittelns“ von Wissen, also der Übertragung des Wissens von einem Gehirn in ein anderes, als ein lernkulturelle Gewohnheit mit einer oft skandalös geringen Nachhaltigkeit. John Erpenbeck fordert, dass Pädagogen berücksichtigen könnten und müssten, wie Menschen wirklich lernen. Er greift dabei den klassischen Satz von Gerald Hüther auf „Ohne Gefühl geht gar nichts“, der für ihn das Grundaxiom jeder Kompetenzentwicklung ist. Diesen Aspekt betont auch Rolf Arnold, in dem er verdeutlicht, dass Wissen und Qualifikation ohne das Erleben in erfolgreichen Anwendungen, die emotionale Erfahrung der Selbstwirksamkeit fehlt. Deshalb können Kompetenzen lediglich reifen, aber nicht erzwungen werden. Die Didaktik muss sich deshalb entsprechend weiter entwickeln. Wir benötigen eine Architektur der Erlebnisorientierung, auch im Bereich des Wissensaufbaus und der Qualifizierung, die deutlich über eine bloß kognitive Aneignung hinaus geht. Erpenbeck erweitert diesen Aspekt um die Werte, die fehlende Kenntnisse „überbrücken“ oder ersetzen können und damit die Lücke zwischen Kenntnissen und Handeln schließen.

Rolf Arnold fordert in seinem 5. Brief daraufhin ein wirksame Kompetenzdidaktik, die günstige Gelegenheiten für reflexives Lernen schaffen. Diese benötigt Zieltransparenz (Kompetenzprofile) und die Verantwortungsübernahme durch die Lernenden („Ownership“). Lehren wird deshalb zu einer Inszenierung von Erfahrungsräumen, in denen den Lernenden Erklärungs- Vertiefungs- und Diskursmöglichkeiten eröffnet werden, die sie zu ihren Bedingungen nutzen können.

Im 6. Brief beschäftigt sich John Erpenbeck vor allem mit dem informellen Lernen. Er betont, dass der beste Prädiktor für zukünftiges Handeln vergangenes Handeln ist. Die Didaktik der Zukunft wird eine Ermöglichungsdidaktik sein. Dabei geht es darum, Kompetenzen im direkten Praxisbezug durch Coaching, Mentoring, Training und weitere emotionsaktivierende, motivationsschaffende Erkenntnis- und Erfahrungsformen aufzubauen.

Das Fazit im letzten Brief von Rolf Arnold ist, dass wir vielfältige Lernräume („Frames“) gestalten müssen, in denen aktive Suchbewegungen, selbstgesteuerte Aneignung sowie probehandelnde Problemlösung geübt, verändert und routiniert werden können. Dabei ist die Fähigkeit zur Reflexion des eigenen Handelns ein zentrales Element sowohl in der Erwerbs- und Bildungsphase als auch in Tätigkeitsfeldern von Akademikern. Kompetenzreifung setzt eine Infrastruktur voraus. „Nicht was in eine Person eingegeben wird (Input), sondern was beim Handeln letztlich herauskommt (Outcome) zählt.

[1] Arnold, R.; Erpenbeck, J. 2014: Wissen ist keine Kompetenz. Dialoge zur Kompetenzreifung, in: Arnold, R. (Hrg.) Grundlagen der Berufs- und Erwachsenenbildung, Hohengehren

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