Entlehrt Euch! Ausbruch aus dem Vollständigkeitswahn

Rolf Arnold, Professor für Pädagogik, insbesondere Berufs- und Erwachsenenpädagogik, an der TU Kaiserslautern und Wissenschaftlicher Direktor des Distance and Independent Studies Center (DISC) hat mit dem Titel „Entlehrt Euch!“[1] ein richtungsweisendes Werk veröffentlicht, das eine hervorragende Grundlage für alle Gestalter bedarfsgerechter Lernkonzeptionen bildet. Der Titel erinnert an berühmten Aufruf von Stéphane Hessel „Empört Euch!“[2] hat aber inhaltlich nichts damit zu tun, sehr wohl aber mit dessen Verve.

Das heutige, weitgehend institutionalisierte Lernen folgt nach Arnold überwiegend einer Tradition, die faktisch nicht mehr haltbar ist. Dies wird durch die Ergebnisse der lern- und neuropsychologischen Forschung belegt. Belehren und Disziplinieren muss deshalb durch ein selbstorganisiertes Lernen abgelöst werden, das nachhaltiger und fruchtbarer ist. Lernen erfolgt jedoch meist immer noch nach administrativen Vorgaben, gegenüber denen die Einsichten der Lern- und Hirnforschung zur Nachhaltigkeit der Kompetenzentwicklung und zur Kraft des informellen und selbstorganisierten Lernens sich nur schwer Gehör verschaffen können.

Der Autor will auf folgende grundlegende Fragen Antworten geben:

  • Was bleibt uns tatsächlich von den Jahren, die wir in belehrenden und nicht selten auch kränkenden Kontexten zubringen mussten?
  • Was haben wir von diesem Vermögen wegen und was entgegen diesen Kontexterfahrungen aus uns herausbilden können?
  • Was verlernen wir in diesen Kontexten, und welche Ich-Stärkung und welche Selbstorganisationsfähigkeiten verpassen wir?
  • Welche Konsequenzen ziehen wir aus der bildenden Kraft des Suchens und Erprobens, die uns mit bleibenden Fähigkeiten auszustatten vermag?
  • Wie können Bildungsinstitutionen sich zu Räumen des Selbstlernens, der Selbstorganisation und es Kompetenzerfolges wandeln? Und:
  • Wie können wir als Einzelne und als Gesellschaft die Potenziale erschließen (helfen), die in den Menschen schlummern?

«Entlehrt euch!» ist ein Aufruf von Rolf Arnold, die bestehenden Bildungsinstitutionen und auch die Bildung selbst einmal isoliert von ihrer Tradition zu betrachten und damit neu anzudenken. Denn mit der Institutionalisierung des Lernens geht ein Vollständigkeitswahn einher, der de facto allen neuro- und lernpsychologischen Ergebnissen zuwiderläuft. Der Autor fordert, Disziplinierung und Belehrung hinter uns lassen und uns dem Lernen von innen her zuwenden. Selbstgesteuert und -motiviert lassen sich Lernprozesse weitaus nachhaltiger und fruchtbarer gestalten.

Entstehungshintergrund

Der Anlass für dieses Buch ist die Kompetenzkatastrophe, die John Erpenbeck und Werner Sauter[3] beschrieben haben. Danach vertrödelt Deutschland seine Bildungszukunft, weil es die Entwicklung zur Kompetenzgesellschaft völlig ignoriert. Es leistet sich ein Bildungssystem, das sich nur im Schneckentempo weiter entwickelt, während sich die Welt ringsum in einem rasenden Tempo verändert. In allen Bildungsbereichen, von den Schulen über die Hochschulen bis zu den Betrieben, werden immer noch überwiegend die skandalös ineffektiven Methoden des Seminarlernens, häufig in Form von Frontalunterricht praktiziert. Lernen findet großteils noch immer in abgeschlossenen Schulräumen, Lehrsälen oder Seminarhotels statt, anstatt dort, wo die Herausforderungen zu bewältigen sind. Das zukünftige Lernen soll lebenslang sein, die zukünftige Welt kommt darin aber kaum vor.

Wissensweitergabe gilt immer noch als der Weisheit letzter Schluss, geprüft wird nach den Prinzipien des Bulimielernens: Wissen aufnehmen, in Prüfungen und Klausuren ausspucken – und sofort vergessen. Auch das betriebliche Lernen wird sich, entsprechend der Arbeitswelt, radikal verändern. Das Bildungssystem ist darauf aber überhaupt nicht vorbereitet.

Kompetenzen, die Fähigkeiten selbstorganisiert und kreativ Herausforderungen zu bewältigen, interessieren die meisten Bildungsverantwortlichen nur in Sonntagsreden. Der durchaus sinnvolle Ansatz der Bologna-Reformen wird ins glatte Gegenteil verkehrt. Erfolgreiche Kompetenzentwicklung setzt Eigenverantwortung und Selbstorganisation, Lernen in realen Herausforderungssituationen sowie die Anwendung und Bewährung in der eigenen Lebenswelt voraus. Die heutigen Bildungssysteme in Schulen, Hochschulen und Unternehmen ignorieren diese Anforderungen und verhindern damit die notwendige Entwicklung der Kompetenzgesellschaft.

Arnold spitzt diese kritische Bestandsaufnahme nicht weiter zu, sondern will die Zielmarken einer inneren Entwicklung der Bildungsinstitutionen in den Blick rücken und Ansatzpunkte für den dringend notwendigen Lernkulturwandel identifizieren.

Aufbau und Inhalt

Jedes Kapitel beginnt mit einer These, die in der Summe ein Manifest ergeben. Der Autor vertieft darauf bezogen jeweils die einschlägigen Debatten und Forschungsbezüge, ergänzt sie und entwickelt sie weiter. Er will dadurch Anregungen und Konkretisierungen zur Reflexion der eigenen Bildungsgeschichte und zur Veränderung der eigenen Bildungspraxis in Schule, Berufsausbildung, Hochschule und Erwachsenenbildung geben.

These 1: „Der Mensch ist das lernfähige Tier“.

Rolf Arnold betont die schier grenzenlose Fähigkeit des Menschen, aus Erfahrungen zu lernen, neue – passendere – Lösungen zu erproben und dadurch immer erfolgreicher bei der Bewältigung von Herausforderungen zu werden. Deshalb muss die didaktische Analyse der möglichen Bildungswirkung des Lehr- und Fachinhalts durch eine didaktische Analyse des Lernsubjektes abgelöst werden, da dessen Lernbewegungen von ihm selbst her begründet und als subjektiv anschlussfähige Lernbewegung arrangiert werden müssen. Damit die Menschen in der sich rasant verändernden Welt bestehen können, müssen sie sich aus dem Vollständigkeitswahn befreien. Arnold fordert eine Subjektdidaktik, die sich darauf konzentriert, eigene Erfahrungen und Autonomie zu ermöglichen, indem sie die Lernautonomie grundsätzlich beim Lernenden belässt.

These 2: Der Mensch ist lernfähig, aber unbelehrbar“.

Noch immer dominieren wissensorientierte Didaktiken, obwohl nach deren Ansatz kaum nachhaltig Wissen und Fähigkeiten aufgenommen werden. Die Ergebnisse der systemischen sowie der Hirn- und Lernforschung bahnen dagegen ein intransitives Verständnis der Lern- und Bildungsprozesse an, das die Autonomie des lernenden Individuums, d.h. die Selbstorganisation seiner Auseinandersetzung mit neuen Anforderungen und bei der Entwicklung seiner Kompetenzen stärkt.

These 3: Lernen erfolgt einer Aneignungs-, keiner Vermittlungslogik

Menschen lernen in Form einer Suchbewegung. Deshalb ist es notwendig, sich der Singularität der Aneignung von Wissen und Kompetenzen zuzuwenden. Verbunden damit ist eine Abkehr von den verbreiteten Motivationstheorien und Lerntypologien, die der Autor als hilflose Versuche zur Rettung instruktionistischer und interventionistischer Vermittlungskonzepte bewertet. Als einzig denkbare Antwort auf die Singularität und relative Geschlossenheit der Aneignungsbewegungen lernender Subjekte sieht Arnold die didaktische Kontextsteuerung, d. h. die ermöglichungsdidaktische Gestaltung des Lernrahmens

These 4: Wir lernen von anderen, aber mit einsamen Gehirnen

Eine nachhaltige Wirkung von Lernprozessen, z. B. Behalten oder Können, kann nicht ohne eine bewusste oder gezielte Eigenbewegung des Lerners erzielt werden. Kompetenzerfolge korrelieren nicht mit der Verweildauer in bewachten Lernprozessen, z. B. Unterricht oder Seminar, sondern mit der Intensität erlebter Selbstwirksamkeit, Selbststeuerung und Selbstverantwortung. Dies bedingt Arrangements längerfristiger Lernprozesse, die Ermöglichung selbstorganisierter Entwicklung sowie die Schaffung vielfältiger Gelegenheiten zur selbstorganisierten Entwicklung im Rahmen von Standards und Kompetenzprofilen.

These 5: Lernen ist weniger Vorbereitung als vielmehr Ich-Stärkung

Bildung und Lernen wurden über viele Jahrhunderte als Vorratslernen zur Bewältigung späterer Herausforderungen verstanden. Dies setzt jedoch die Prognostizierbarkeit zukünftiger Herausforderungen voraus, was in Zeiten des digitalen Wandels und der rasant steigenden Halbwertszeit des Wissens immer weniger möglich ist. Deshalb erleben wir einen Wandel vom Sicherheits- zum Unsicherheitslernen. Wir benötigen folglich eine Pädagogik der Kompetenzstärkung, die sich auf die Aneignung, die Transformation von Persönlichkeit sowie die Entwicklung von Kompetenzen konzentriert. Der curriculare Anspruch wird dabei nicht vollständig aufgegeben, konzentriert sich aber auf eine Logik der Kontextsteuerung, nicht mehr der Inputsteuerung.

These 6: Bildung ist Suchen, nicht Finden

Bildung versteht Rolf Arnold als ein Programm mit dem Ziel, dass der Mensch sich selbst auf den Weg machen kann, um zu dem zu werden, der oder die er sein kann. Damit rückt der Aspekt der Selbstbildung in den Fokus, die von dem lebendigen Interesse getragen ist, zu erfahren, wie die Welt aus anderen Augen aussieht und wie es gelingen kann, das eigene Blickfeld auf diese Weise zu erweitern. Eine wirksame Begleitung dieser Suchbewegungen lebt dabei von der Fähigkeit, unser eigenes Verhalten und das des Gegenübers zu verstehen.

These 7: Selbstlernkompetenzen sind die eigentlichen Schlüsselfähigkeiten im Wandel

Selbstlernkompetenzen werden bereits in unserer frühen Kindheit angebahnt und als mentale Stile und Routinen internalisiert. Erfreulicherweise können diese Vorprägungen durch kompensatorische Bemühungen von Schulen und Bildungspolitik nicht völlig beseitigt werden. Arnold entwickelt ein Tableau für Selbstlernkompetenz, das spirituelle und emotionale Kompetenzen sowie Kommunikations-, Lern- und Wissenskompetenz umfasst. Dabei wird deutlich, dass Mitarbeiter, die zur Selbstorganisation fähig sind, gleichzeitig Mündigkeit und Kritikfähigkeit benötigen.

These 8: Wir benötigen ein neues Verständnis von dem, was Lernen ist und wie es unterstützt werden kann.

Die Fokussierung auf den Inhalt muss um den Blick auf den Prozess des Lernens sowie dessen Outcomes ergänzt und auch abgelöst werden. Bildung wird dabei als Reifung des subjektiven Vermögens der Einzelnen verstanden. Deshalb ist die Stärkung der eigenen Kompetenzen der Lerner zur Erschließung und Erprobung des Wissens der wohl einzige Weg eines nachhaltigen Kompetenzerwerbs. Eine noch so gekonnte Digitalisierung des Inhalts muss deshalb wirkungslos bleiben, wenn die Lernenden nicht zu Gestaltern ihres eigenen Lernvermögens werden. Arnold fordert eine Outputorientierung der Bildung, bei der die Frage nach den Ergebnissen des angestrebten Lernens und die methodische Analyse der Selbsterschließungschancen im Vordergrund stehen. Benötigt werden deshalb Kompetenzprofile, die an die Stelle von Lehrplänen, Ausbildungsordnungen oder Modulhandbüchern rücken.

These 9: Selbstlernen braucht anregende Arrangements, Wertschätzung, Anleitung und Begleitung

Die heutigen Lehrer, Dozenten oder Trainer müssen sich zukünftig auf die Begleitung und Beratung der Lernenden konzentrieren, wenn das Lernen zu einem selbstgesteuerten Tun werden soll. Diese Lernbegleitung verzichtet auf das „Abholen“ der Lerner, weil man Lernende nur wirklich dorthin begleiten kann, wo sie auch selbst anzukommen in der Lage sind. Die Lernenden müssen sich dabei immer mehr über ihren personalisierten Lernprozess reflektieren und ihre Ziele laufend anpassen. Eine besondere Rolle spielen dabei komplexe Aufgabenstellungen in der Praxis oder in Projekten, bei deren Bewältigung Kompetenzen selbstorganisiert aufgebaut werden. Dies bedeutet eine Abkehr vom Anspruch der Vollständigkeit. Angesichts der Möglichkeiten wie der Google-Suche wird die Wissenskompetenz wichtiger, die auch die Fähigkeit zur Reflexion und Gestaltung umfasst.

These 10: Kompetenzentwicklung braucht die Führung zu lernenden Organisationen

Die Pädagogik wird zunehmend sensibler gegenüber den hohen Anteilen des informellen Lernens beim Kompetenzerwerb und wird zunehmend achtsamer gegenüber den Rahmung institutionalisierten Lernens. Damit ein nachhaltiger Wandel der Lernkulturen Richtung Selbstorganisaiton und Nachhaltigkeit des Lernens gelingen kann, ist es deshalb unverzichtbar, auch die Bildungsinstitutionen, von den Schulen über die Hochschulen bis zu den betrieblichen Bildungsbereichen, nach den Maßgaben der Selbstorganisation zu gestalten, d. h. zu lernenden Organisationen zu entwickeln. Diese definieren sich nicht mehr durch Hierarchien, Zuständigkeiten und Reglemente, sondern konzentrieren sich auf die Entwicklung des Rahmens für selbstorganisiertes Lernen und nachhaltige Kompetenzentwicklung, ohne genau zu wissen, zu welchen Ergebnissen die personalisierten Lernprozesse führen.

Fazit

Über Bildung wird nach Rolf Arnold wenig nachgedacht, aber viel gestritten. Das neue Werk von ihm zeigt in beeindruckender Weise auf, wie sich das Lernen heute und zukünftig verändern muss, um die Menschen zu befähigen, Herausforderungen zu bewältigen, die wir heute noch gar nicht kennen. Er entwickelt ein klares Bild einer neuen Lernwelt, die sowohl für Schulen, Hochschulen als auch Unternehmen zutrifft, die durch eine Ermöglichungsdidaktik, Selbstorganisation und Kompetenzentwicklung geprägt ist.

Dass sich dabei die Rollen von allen Beteiligten an Lernprozessen fundamental verändern, vom fremdgesteuerten Lerner zum selbstorganisierten Entwickler der eigenen Kompetenzen, vom Lehrer zum Lernbegleiter und von der Personalentwicklung zum Gestalter des Ermöglichungsrahmens, wird sicher Widerstände hervorrufen. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass zentralistisch ausgerichtete Bildungsbereiche, wie die Kultusbürokratie, Schulaufsichten oder Personalentwicklungsabteilungen, ihre Berechtigung immer mehr verlieren. Es gibt aber keine Alternative zur grundlegenden Veränderung der Bildungskonzeptionen in allen Bereichen, wenn die Menschen auch bei zunehmender Digitalisierung der Lebens- und Arbeitswelt ihre Herausforderungen bewältigen können sollen.

Rolf Arnold ist es gelungen, in  prägnanter Weise die zentralen Aspekte einer notwendigen Bildungsrevolution heraus zu arbeiten und die erforderlichen Ansatzpunkte für Veränderungen konkret zu beschreiben. „Entlehrt Euch“ sehe ich deshalb als Pflichtlektüre für alle Gestalter von Bildungskonzeptionen, die den Anspruch haben, es den Lernenden zu ermöglichen, ihre Kompetenzen zur Bewältigung ihrer zukünftigen Herausforderungen selbstorganisiert aufzubauen.

[1] Arnold, Rolf (2017): Entlehrt Euch! Ausbruch aus dem Vollständigkeitswahn, hep Verlag Bern

[2] Hessel, Stéphane (2011): Empört Euch!, Berlin

[3] Erpenbeck, J. & Sauter, W. (2016): Stoppt die Kompetenzkatastrophe! Wege in eine neue Arbeitswelt, Wiesbaden

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