Es gibt ein breites Schrifttum zu Erlebnis- und Abenteuerpädagogik. Trotzdem ist sie innerhalb der Pädagogik immer noch „randständig“, oft verkannt, belächelt, verdrängt.[1] Und doch steht sie vom pädagogischen Gewicht her im Mittelpunkt jeden wirklichen Erfahrungslernens. Wir werden diesem Phänomen immer wieder begegnen. Da macht man sich im Bereich von Unternehmenstrainings über Verfahren lustig, „wenn Manager auf Bäume klettern…“ und qualifiziert sie als Mythen der Personalentwicklung und Weiterbildung ab. Ohne zu bedenken, welche lebens- und geschichtsverändernde Kraft gerade wertebasierte Mythen entwickeln.[2]
Erleben ist als Grundlage für den eigenen Erfahrungsgewinn unverzichtbar. Gerade Erlebnisse liefern die Momente der emotionalen „Labilisierungen“, unter denen nicht nur Sachwissen aufgebaut, sondern Emotionen angeregt, Motivationen ausgeprägt und Wertehaltungen, die wiederum für den Kompetenzaufbau notwendig sind, entwickelt werden.Beim Erleben wird nicht Wissen im engeren Sinne aufgebaut, sondern es werden Labilisierungssituationen so unumgänglich gemacht, dass Wertehaltungen emotional verankert und damit handlungswirksam werden.
Grenzsituationen verunsichern gewohnte Handlungsmuster und lösen Krisen auf mehreren Ebenen aus: auf der geistigen Ebene Irritationen, Konfusionen, Desorientierungen und Chaos; auf der emotional-psychischen Beunruhigung Verstörung, Ärger und Angst; auf der physiologischen die Ausschüttung von Adrenalin und eine erhöhte Anspannung; auf der direkten Handlungsebene Erschrecken, Flucht und Aggressionen… „Reicht jedoch in einer Situation der Rückgriff auf tradiertes Wissen nicht mehr aus, greifen die alten Codes und Filtersysteme nur noch teilweise oder erweisen sich als kontraproduktiv, sind Explorationsversuche, Veränderungen, Neuorientierungen notwendig.“[3]
Das gilt übrigens besonders für die Herausforderungen der Digitalisierung, für den Umgang mit den immer neuen technischen und kommunikativen Möglichkeiten elektronischer Datennetze und ihrer kreativen Weiterentwicklung. Es handelt sich stets um ein Erleben anhand möglichst authentischer Problemsituationen und Entwicklungsaufgaben.
„Erlebnispädagogik ist ein handlungsorientiertes Bildungskonzept. Physisch, psychisch und sozial herausfordernde, nicht alltägliche, erlebnisintensive Aktivitäten dienen als Medium zur Förderung ganzheitlicher Lern – und Entwicklungsprozesse. Ziel ist es, Menschen in ihrer Persönlichkeitsentfaltung zu unterstützen und zu verantwortlichen Mitwirkung … zu ermutigen…Ziel …ist es, Wissen, Kompetenzen, Einstellungen, Wertehaltungen zu fördern, Menschen je nach Entwicklungsstand und individuellen Möglichkeiten zu befähigen, die eigene wie auch die gesellschaftliche Lebenswelt verantwortungsbewusst mitzugestalten“.[4]
Erfahrene Pädagogen spüren das große Potenzial der erlebnisorientierten Methoden. Sie werden als anregende methodische Prinzipien, wichtige Alternativangebote in der Erlebnisgesellschaft, als ganzheitliche Erziehungs- und Entwicklungskonzepte hervorgehoben. Besonders wird die aktivierende Wirkung von Wagnis und Bewährung, die Erprobung selbstverantwortlichen Handeln betont, ein Synonym für emotional labilisierende, werteerzeugende Situationen.
Erlebnispädagogik umfasst ein buntes Bündel von Methoden. Alle führen zu mehr oder weniger starken Konfliktsituationen, emotionalen Irritation, zu emotionalen Labilisierungen. Bei einigen halten sich die Labilisierungen in bescheidenen Grenzen, etwa beim Hochseilgarten, bei einigen entstehen oft unerwartet heftige, emotional hoch labilisierende Situationen, etwa bei einer echten Expedition in ein unbekanntes Land.
Praktisch unterscheidet man Abenteuerpädagogik, Outdoortraining und andere erlebnisorientierte Trainingsformen. Alle Werte- und Kompetenzentwicklungen im Rahmen der Praxis beruhen auf Erlebnissen und Erfahrungen. Insofern wäre es müßig, ein sie alle gleichermaßen betreffendes „Schema“ anzugeben. So kann man stattdessen eine recht alltägliche betriebliche Situation heranziehen, die Sie kennen und in die Sie sich versetzen können, eine Situation, die unverzichtbar Schritte einer gezielten Werteentwicklung der beteiligten Persönlichkeiten erfordert.
Mitarbeiter, die bisher kaum Erlebnisse mit ausländischen Mitbürgern hatten, weisen häufig im Bereich des Wertes „Respekt“ solchen Kollegen gegenüber Defizite auf. Eine Entwicklung dieses Wertes und der interkulturellen Kompetenz wird dabei mit Sicherheit nicht möglich sein, wenn die Organisationsleitung belehrende Publikationen verteilt oder die Mitarbeiter in Seminaren über die Bedeutung des Respekts, insbesondere gegenüber ausländischen Mitarbeitern, „aufklärt“. Eine nachhaltige Entwicklung des Wertes Respekt gegenüber anderen und der interkulturellen Kompetenz wird nur möglich sein, wenn alle Beteiligten die Zusammenarbeit mit diesen Mitarbeitergruppen selbst erleben.
Die intensivste Form ist sicherlich ein Erfahrungsgewinn, bei dem gemeinsam Herausforderungen in der Arbeitspraxis bewältigt werden. Es bieten sich in Ihrem betrieblichen Kontext aber auch weitere Möglichkeiten des gemeinsamen Erlebens an. Dies können gemeinsame Feiern, beispielsweise von Erfolgen, gemeinsame sportliche oder kulturelle Aktivitäten oder gemeinsames Kochen sein. Es geht dabei immer darum, sich auf Augenhöhe zu begegnen und wie selbstverständlich zu kommunizieren. Auch Entwicklungs-Patenschaften, die Mitarbeiter für neue ausländische Mitarbeiter übernehmen, können geeignet sein, den Wert Respekt für andere durch Erlebnisse weiter zu entwickeln.
Der gezielte Einsatz von Erlebnissen ist dann sinnvoll, wenn die Werte- und Kompetenzentwicklung nicht im Rahmen des Arbeitsprozesses möglich ist. Das Ziel ist dabei, Möglichkeiten für Erlebnisse zu schaffen, die eine Verinnerlichung, eine Interiorisation der gewünschten Werte und den Aufbau der angestrebten Kompetenzen ermöglichen.
Hierfür schlage ich Ihnen folgende grundlegende Vorgehensweise vor:
- Am Anfang sollte eine Messung der individuellen Werte und Kompetenzen sowie eine Definition individueller Werte- und Kompetenzziele stehen
- In einem Entwicklungsgespräch mit der Führungskraft wird der Rahmen für Erlebnisse festgelegt, die geeignet sind, die gewünschte Werte- und Kompetenzentwicklung zu ermöglichen
- Die selbstorganisierte Planung der eigenen Werte- und Kompetenzentwicklung wird durch Sprints und wöchentlichen Reviews (Jour-fixe) mit den Entwicklungspartnern geprägt. Die Mitarbeiter vollziehen regelmäßige Reflexionen über die eigenen Erlebnisse und nehmen die Planung weiterer Entwicklungsschritte mit einem Entwicklungspartner, evtl. mit Beratung durch einen professionellen Lernbegleiter, in Angriff.
- Eine Dokumentation der Erfahrungen und ein abschließender Austausch mit dem Entwicklungspartner, evtl. dem Lernbegleiter und der Führungskraft bilden einen vorläufigen Abschluss.
- Diese Vorgehensweise kann bei Bedarf wiederholt werden
[1] Bauer, H.: Erlebnis-und Abenteuerpädagogik. Eine Entwicklungsskizze. München und Mering (2001)
[2] Kanning, U.P.: Wenn Manager auf Bäume klettern… Mythen der Personalentwicklung und Weiterbildung. Lengerich (2013)
[3] Paffrath, F.: Einführung in die Erlebnispädagogik (Praktische Erlebnispädagogik). Trebbin (2017), S. 59
[4] ebenda, S.21, S.24 f.