Diese Woche war ich als Eröffnungsredner auf der Frühjahrstagung der Arbeitsgemeinschaft für das Fernstudium an Hochschulen – AG-F – zum Thema „Kompetenzentwicklung in Fernstudiengängen“ eingeladen. Es war sehr spannend, in einem Umfeld, das durch „Bologna-Kompetenzen“, Studienbriefe und Akkreditierungsverfahren geprägt ist, über Kompetenzen als die Fähigkeit, Problemstellungen in der Praxis selbstorganisiert lösen zu können, zu sprechen und zu diskutieren.
Es ist erstaunlich, dass jährlich etwa 400.000 Lerner Fernkurse buchen, obwohl sie noch auf einer Didaktik und Methodik basieren, die sich in den vergangenen fünfzig Jahren nur marginal, wenn überhaupt verändert hat. Dort soll das gesamte Wissen nach wie vor überwiegend in Studienbriefen, häufig per Post (!) versandt, „vermittelt“ werden. Die von der Stiftung Warentest beispielsweise untersuchten Fernstudiengänge versprechen in Ihren Publikationen überwiegend Richtziele auf der Ebene der Kompetenzen, wie „Problemlösungen entwickeln“, „Prozesse gestalten“ oder „Liquidität planen“, bieten tatsächlich jedoch nur Fachtexte und Übungsaufgaben. Der Praxistransfer wird meist nur als allgemeine Forderung definiert..[1] Es wird somit dem Lerner und dem Zufall überlassen, ob er in der Praxis die Chance erhält, sein Wissen in realen Herausforderungen anzuwenden.
Nahezu alle Anbieter setzen auf „klassische“ Fernstudiengänge mit Studienbriefen, die mit mehr oder weniger gut ausgebauten Lernplattformen im Netz ausgeschmückt werden. Bei kaum einem Anbieter ist erkennbar, dass er die Möglichkeiten der neuen Medien in sein Lernsystem integriert hat. Durchgängig wirken die medialen Angebote aufgesetzt, teilweise wird man den Eindruck nicht los, dass die Learning Management Systeme nur aus Marketinggründen eingerichtet wurden. Dies zeigt sich vor allem daran, dass es keine didaktisch-methodische Verknüpfung zwischen den Studienbriefen und der Plattform gibt. Wenn überhaupt, werden Foren oder Chats angeboten, in denen die Lerner ihre offenen Fragen mit anderen Kursteilnehmern, teilweise auch mit Fernlehrern, klären können. Häufig werden jedoch nur private Beiträge ausgetauscht.
Die Lerner senden ab und zu, im Regelfall häufig per Post, sogenannte „Einsendeaufgaben“ ein, die sie dann nach einiger Zeit, in vielen Fällen nur mit Häkchen oder mit Hinweisen wie „zu allgemein“ oder „sehr schön“, „weiter so“ versehen, zurück erhalten..[2] Nur ein kleiner Teil der Anbieter bietet ergänzend, auf freiwilliger Basis Präsenztage an, die aber nicht direkt in die Lernkonzeption eingebunden sind. In sogenannten Online-Studienzentren mit Chats und/oder Foren sollen sich die Teilnehmer bei einigen Anbietern austauschen. Auch hier gibt es im Regelfall keine methodischen Ansätze in den Studienbriefen und Aufgaben, um diesen Austausch systematisch in den Lernprozess zu integrieren. Die Abbruchquoten, die zwischen den einzelnen Anbietern von 30 % bis 90 % differieren, machen zudem deutlich, dass die Qualität der Lernbegleitung sehr unterschiedlich ist.
Alle Fernkurse in Deutschland müssen eine staatliche Zulassung nachweisen. Wir fragen uns angesichts dieser verstaubten Lernkonzepte, ob die entsprechende Behörde, die Zentralstelle für Fernstudienunterrricht (ZfU) in Köln, tatsächlich dafür bürgt, dass die Teilnehmer nur Kurse mit hoher fachlicher und didaktisch-methodischer Qualität erhalten. Für etablierte Fernstudien-Anbieter sind diese „Prüfungsprozesse“ Dank umfangreicher Textbausteine heute sicherlich Routine. Dagegen werden innovative Anbieter am Markt durch die relativ hohen und teuren Hürden des Genehmigungsprozesses eher abgeschreckt. Dies ist die groteske Wirkung einer ursprünglich gut gemeinten Verbraucherschutzmaßnahme..
Auch in Fernkursen dominiert also das Bulimielernen. Das Ziel der Teilnehmer ist meist, ein Zertifikat zu erlangen, das ihnen Türen in Wirtschaftsberufe öffnet. Mit Kompetenzentwicklung hat derartiges Pauklernen nichts zu tun. „Handeln kann man nur handelnd erlernen!“ Was bedeutet diese Erkenntnis von Diethelm Wahl für die Gestaltung von Fernstudiengängen in der Zukunft?
Bereits die Ziele des Lernens unterscheidet Kompetenzlernen grundlegend vom bisherigen Fernlernen, das durch zentral vorgegebene Curricula bestimmt ist, die für alle Lerner einer Zielgruppe identisch sind. Kompetenzziele sind dagegen konsequent auf die einzelnen Lerner fokussiert, d.h. jeder Lerner definiert, evtl. in Abstimmung mit einem Lernbegleiter, diese Ziele eigenverantwortlich. Die Möglichkeiten und Ziele der Kompetenzentwicklung leitet der Lerner aus einer vorangegangenen systematischen Kompetenzmessung ab, die sich wiederum an definierten Kompetenzprofilen orientiert. Die Kompetenzziele werden auf die selbst organisierte Lösung von Herausforderungen im Lebens- oder Arbeitsalltag ausgerichtet und damit handlungsorientiert gestaltet. Wissensaufbau und Qualifikation werden weiterhin verfolgt, sind aber nicht mehr das Ziel des Lernens, sondern die notwendige Voraussetzung für die Kompetenzziele.
Die Herausforderung in der Konzipierung kompetenzorientierter Fernlern-Arrangements besteht folglich darin, den Lernern einen Ermöglichungsrahmen zu bieten, um ihre Kompetenzen selbstorganisiert, in einem kommunikativen Prozess mit Lernpartnern (Netzwerk), aufzubauen. Dabei gehört es zum notwendigen Design eines Entwicklungsprozesses, dass verschiedene Formen des kollaborativen Lernens ermöglicht werden. Darunter verstehen wir organisationsbezogenes Lernen im Rahmen realer Herausforderungen, das auf langfristige, gemeinsame Lernprozesse sowie zusammen vereinbarte Ziele zielt. Dieses Lernen erfolgt beim gemeinsamen Erarbeiten einer Lösung für eine Praxisaufgabe, der gemeinsamen Bearbeitung eines Praxis- oder Forschungsprojektes oder der gegenseitigen Reflexion und Bewertung. Im Rahmen eines gegenseitigen Coaching werden die Lerner befähigt, ihre Praxis zu bewältigen. In Lerntandems und in kleinen Gruppen sollen sie sich im gegenseitigem Austausch, also kommunikativ und in der Form „kleiner Netze“, gegenseitig in ihrer Entwicklung unterstützen.
Die Lerner können somit im Rahmen des Fernkurses ihre individuellen Problemstellungen aus ihrer Praxis einbringen. Fernlernen trägt damit dazu bei, Herausforderungen im Alltag, im Studium oder im Arbeitsalltag zu lösen und dabei gleichzeitig Kompetenzen aufzubauen. Dieser Ansatz mag für jemand, der die bisherigen Fernstudiengänge gewohnt ist, utopisch erscheinen. In einer Zeit, die durch Soziale Netzwerke, durch OER, MOOC oder Social Business geprägt ist, gibt es nach unserer Sicht jedoch keine Alternative dazu, im Bereich der Fernstudiengänge eine Revolution einzuleiten. Dies kann nicht einmal die ZfU verhindern.
[1] Vgl. Stiftung Warentest Test Spezial Karriere 2012 sowie ergänzende Auswertungen
[2] Vgl. Wahl, D. (3 Aufl. 2013)