Mit Erstaunen habe ich gelesen, dass der Horizon Report 2014 im Konzept des Flipped Classroom das Potenzial sieht, die Bildungswelt binnen kurzer Zeit nachhaltig zu prägen. Deshalb setzt er Flipped Classrooms auf Platz eins der „Bildungstechnologien“, die jedes Jahr von einem Expertengremium ermittelt werden.
Flipped Classroom (Inverted Classroom) ist ein Lehrkonzept, bei dem sich die Schüler bzw. Studenten vorab vor allem mit Videos von Vorlesungen, aber auch teilweise anderen Materialien oder Interaktionen, die im Netz zur Verfügung gestellt werden, zuhause vorbereiten. Der Wissensaufbau der Vorlesung, des Schulunterrichts oder der Weiterbildungsveranstaltung wird also aus dem Hörsaal oder Klassenzimmer ausgelagert und in die Selbststeuerung der Lerner gelegt. Meist haben sie zusätzlich Aufgaben oder Reflexionsfragen zu bearbeiten. Anschließend treffen sie sich für Diskussionen und Übungen mit Ihren Lernpartnern und Dozenten. Vorlesungen und Hausaufgaben werden also vertauscht. Im Mittelpunkt des Flipped Classroom steht dabei die Lernphase in Präsenz mit einem Dozenten, die durch die systematische Vorbereitung optimiert werden soll.
Das Konzept des Flipped Classrooms ist wohl nur zu verstehen, wenn man es aus der Brille einer Hochschule betrachtet. Es ist in erster Linie ein LEHRkonzept, in dem die Phasen von „Vermittlung“ und Verarbeitung vertauscht wurden.
Kann dieser Ansatz aber Impulse für die betriebliche Bildung geben?
Zunächst kommt mir spontan die Frage in den Sinn, warum die Methode der Vorlesung dadurch verbessert wird, wenn man sie als Video ins Netz verlagert. Das einzige, etwas dürftige, Argument ist der Hinweis, dass ein Student den Abschnitt, den er nicht verstanden hat, so oft betrachten kann, bis es bei ihm „klickt“. Ich halte viel davon, immer wieder kurze Videos in Lernsequenzen zu nutzen, insbesondere wenn auch emotionale Aspekte „transportiert“ werden sollen. Ein Lernvideo, sofern es nicht interaktiv gestaltet ist, zwingt den Lerner aber dazu, die Informationen genau im Tempo des Lehrenden aufzunehmen. Dagegen kann er in interaktiven Formaten, z.B. Web Based Trainings, in dem Tempo und in der Vorgehensweise lernen, die seinem Lerntyp exakt entspricht. Es wird leider immer wieder vergessen, dass die Lerngeschwindigkeit junger Erwachsener mit dem Faktor 1:9 differiert. Außerdem erhält er laufend Rückmeldungen über seinen Lernstand. Dies ist die notwendige Voraussetzung für erfolgreiches, selbstgesteuertes Lernen.
Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass die Lerner im betrieblichen Kontext über Jahrzehnte Lernroutinen aufgebaut haben, die überwiegend durch fremdorganisierten Unterricht geprägt sind. Es wäre deshalb naiv zu glauben, dass man ihnen einfach Lernmaterialien zur Verfügung stellt und diese dann auch bearbeitet werden. Die Praxis zeigt, dass das Gegenteil er Fall ist. Bei Studenten, die am Schluss eine bestimme Note in einer Klausur erreichen müssen, mag dies eher klappen. Dieses „Bulimie-Lernen“ kann für die betriebliche Bildung aber wohl kaum ein Maßstab sein.
Flipped Classroom ist eine Kombination aus Selbstlernphase und Präsenzunterricht. Wo ist dann der Unterschied zum Blended Learning Konzept? Ich sehe diesen vor allem im Bereich der Verbindlichkeit und der Flankierung der Lernprozesse. Während bei Flipped Classroom die Studenten die Lernmaterialien mit Hinweisen zur Vorbereitung auf die Präsenzveranstaltung online zur Verfügung gestellt bekommen, starten wir Blended Learning Maßnahmen immer mit einem Kickoff. Falls sich die Teilnehmer nicht persönlich treffen können, z.B. weil sie über die ganze Welt verstreut sind, kann dies auch in einem Webinar erfolgen.
In diesem Kickoff schaffen wir die Grundlage für eine erfolgreiche Selbstlernphase. Wir führen in die Lernkonzeption ein, lassen die Teilnehmer Lernpartnerschaften („Co-Coaching“) bilden, die sich einmal in der Woche zum Jourfixe treffen, bilden Lerngruppen zur Bearbeitung komplexer Aufgaben und legen die „Meilensteine“ in der Selbstlernphase verbindlich in schriftlicher Form fest. Innerhalb dieses Grobrasters bestimmen die Lerner ihren Feinplanung individuell mit ihrem jeweiligen Lernpartner selbst.
Es hat sich in unserer langjährigen Praxis erwiesen, dass wir mit dieser, fast bürokratisch anmutenden Vorgehensweise, nahezu ohne Ausnahme erreichen können, dass die Vereinbarungen für die Selbstlernphase tatsächlich eingehalten werden. Wenn wir im Kickoff weiterhin regeln, dass jeder Lerner für seinen Wissensaufbau, evtl. mit Unterstützung des Lernpartners und der Lerngruppe, selbst verantwortlich ist, erreichen wir auch, dass sich die Lernkultur schrittweise in Richtung Selbstorganisation verändert. Bleiben in der Selbstlernphase trotzdem noch Fragen offen, werden diese über einen Themenspeicher im Forum gesammelt und entweder sofort mit dem Lernbegleiter geklärt oder später im Workshop behandelt. Damit wird auch sicher gestellt, dass sich die Inhalte im Workshop genau an den Bedürfnissen der Lerner orientieren.
Die Flankierung der selbstgesteuerten Lernprozesse, die im „klassischen“ Tutoringmodell nicht wirklich möglich ist, weil die Kommunikation in dieser Phase überwiegend schriftlich erfolgt, wird in unserem Ansatz weitgehend von den Lernpartnern übernommen. Diese merken spätestens im wöchentlichen Jourfixe, wenn Handlungsbedarf besteht, weil der Lernpartner vielleicht mit privaten „Giftpfeilen“ zu kämpfen hat. Gemeinsam kann dann eine Lösung, evtl. mit Unterstützung des Lernbegleiters, erreicht werden.
Das Konzept des Flipped Classroom ist aus dem Blickwinkel unserer Erfahrungen für das betriebliche Lernen kaum geeignet, weil es sich ohne Klausurdruck oder Kontrolle durch die Führungskräfte nicht wirksam umsetzen läßt. Wir haben aber mit der skizzierten Ausgestaltung von Blended Learning Konzepten eine bewährte Vorgehensweise, mit der die Verknüpfung von Selbstlernphasen und Präsenz erfolgreich gestaltet werden kann. Damit kann der Wissensaufbau und die Qualifizierung selbstgesteuert durch die Lernenden wirklich optimiert werden.