Der Bologna-Prozess an den Hochschulen hat bewirkt, dass einige überfachliche, berufsfeldorientierte Kompetenzen in die Lehrpläne aufgenommen wurden. Jedoch dominiert dort aber weiterhin die Praxis einer Wissensweitergabe, die Illusion einer „Wissensvermittlung“. Das wird an den Prüfungssystemen, an den Abschlussprüfungen, an den Klausuren, an den zunehmenden Multiple Choice Aufgaben, ganz deutlich.
Auch in den Hochschulen wird eine radikale Veränderung der Strukturen und der Lernkultur erforderlich, um einer Kompetenzkatastrophe zu widerstehen. Studierende sind „lernfähig, aber unbelehrbar“ (Horst Siebert 2011). Diese Erkenntnis sollte sich endlich in den Lernkonzeptionen aller Hochschulen niederschlagen.
Forschendes Lernen (Undergraduate Research) ermöglicht es Studierenden, selbst zu forschen und alle Phasen einer Forschung zu durchlaufen: Fragestellung formulieren, den dazugehörigen Forschungsstand recherchieren, ein methodisches Design planen und umsetzen und die erzielten Erkenntnisse darstellen und präsentieren.
Das Konzept des Forschenden Lernens regt Studierende in ihren Forschungsaktivitäten an, gestaltet Kontexte und Ressourcen und begleitet die Prozesse des Lernens durch selbstorganisiertes Forschen. Die Studierenden erleben Forschung und gestalten sie aktiv. Die Lehre kann diese Forschungsprojekte, z.B. in Projektseminaren, begleiten, steht aber nicht mehr im Vordergrund.
Für die methodische Gestaltung des Studiums eröffnen sich damit vielfältige Möglichkeiten, um Wissensaufbau und Qualifikation mit der personalisierten Kompetenzentwicklung der Studierenden zu verknüpfen. Die Lernsituation wird dabei nicht mehr vom Inhalt sondern aus dem Fokus der Studierenden als Lernrahmen, zunehmend mit digitalen Medien, gestaltet werden. Die Lehrkräfte konzentrieren sich nicht mehr auf die detaillierte Planung eines gemeinsamen Lehr-/Lernprozesses (Planungsfixierung) sondern auf die Ermöglichung des Aufbaus von Wissen und Kompetenzen in individuellen, selbstorganisierten Lernprozessen (Realisierungsfixierung).
Harald Mieg und Judith Lehmann haben hierzu einen sehr empfehlenswerten Herausgeberband veröffentlicht, in dem insgesamt 73 weitere Autoren aus 20 Universitäten und Fachochschulen Beiträge geleistet haben.
Forschendes Lernen wird in deutschen Hochschulen seit 1970 verstärkt diskutiert. In diesem Band soll eine erste Bilanz gezogen und eine umfassende Übersicht über den aktuellen Status des Forschenden Lernens an deutschen Hochschulen gegeben werden. Weiterhin soll eine Vision, wie Hochschulbildung gestaltet werden könnte, wenn die heutigen Dozierenden und Hochschuleinrichtungen einen stärkeren Fokus auf Forschung im Studium legen, entwickelt werden.
Entstehungshintergrund
Die Studierenden werden in ihrem zukünftigen Berufsleben die Kompetenz benötigen, sicher handeln zu können. Dafür wird eine wissenschaftlich basierte Urteilsfähigkeit, die Kompetenz, komplexe Sachverhalte methodisch geleitet und kritisch zu analysieren sowie zu bewerten und darauf aufbauend zielgerichtet zu handeln, benötigt. Diese Kompetenz kann nicht in fremdgesteuerten Lehrarrangements vermittelt werden. Geht man davon aus, dass akademische Bildung eine Bildung durch Wissenschaft anstrebt, rückt deshalb die didaktische Verknüpfung von Forschen, Lehren und Lernen in Form des forschenden bzw. forschungsnahen Lernens in den Fokus.
Damit bauen die Studierenden bereits im Studium die Kompetenzen auf, die sie für die Bewältigung der Herausforderungen in ihrer zukünftigen Praxis benötigen, da die Ähnlichkeiten zwischen Forschungsprozessen und problemlösenden Handeln im Alltag und im Beruf sehr hoch sind. Gleichzeitig fördert forschendes Lernen das Erkennen von Zusammenhängen und damit den nachhaltigen Aufbau von Zusammenhangswissen, und es fördert die Fähigkeit, das Allgemeine im Besonderen zu erkennen.
Forschendes Lernen hat zwangsläufig personalisierte Lernprozesse der Studierenden zur Folge. Dies bedeutet, dass Sie ihre individuellen Kompetenzziele im Rahmen des Forschungsprojektes und von Standards als operativen Leitlinien selbst formulieren, den Forschungsprozess und damit ihren Lernprozess selbst planen und durchführen. Damit wird es unsinnig, Lernziele in Form von Curricula zu standardisieren; den „Roten Faden“ der personalisierten Lernprozesse bilden jeweils die Forschungsprojekte. Diversität als hochschulpolitisches Ziel wird damit realistisch. Die Bewertung der Lernergebnisse orientiert sich an den Ergebnissen der Projektarbeit, das Abfragen von Vorratswissen (Bulimielernen) wird überflüssig.
Aufbau und Inhalt
Zunächst zieht Harald Mieg eine erste Bilanz des Forschenden Lernens im deutschsprachigen Bereich. Er unterscheidet dabei zwischen
- Forschungsbasiert: Lehren und Lernen ist auf Forschung gegründet oder ruht sich aus.
- Forschungsorientiert: Der Forschungsprozess wird vermittelt, sodass die Studierenden selbst zu forschen beginnen könnten.
- Forschend: Die Studierenden gestalten, erfahren und reflektieren den Forschungsprozess.
Die Rolle der bisherigen Lehrenden wandelt sich zum Lernbegleiter.
Danach werden in insgesamt 36 weiteren Beiträgen zunächst die Prinzipien des Forschenden Lernens, die Umsetzung in den einzelnen Fächern sowie die Perspektiven, d.h. die Möglichkeiten für die Entwicklung von Hochschulen und Gesellschaft beleuchtet.
Bei der Analyse der Prinzipien werden vor allem die Aspekte des Selbstlernens und der Bewegung „From Teaching to Learning“ bearbeitet. Danach greifen die Autoren den Aspekt der Kompetenzentwicklung, der Fähigkeit Herausforderungen in Forschungsprojekten selbstorganisiert zu bewältigen, sowie die Notwendigkeit der Reflexion auf. Abschließend wird erörtert, was Forschendes Lernen für die Studienorganisation, z.B. Prüfungen und Interdisziplinarität, bedeuten.
Die fächerspezifischen Aspekte des Forschenden Lernens werden nach der Struktur
- Fächer, für die Professionsentwicklung Thema und Aufgabe sind, z.B. Soziale Arbeit,
- MINT-Fächer, um die sich eine eigene bildungspolitische Diskussion rankt,
- „Life Sciences“, von der Medizin bis zu Gesundheitswissenschaften,
- Kunst und Gestaltung, am Beispiel Kunst, Architektur und Design,
gegliedert.
Im abschließenden Kapitel werden die Perspektiven des Forschenden Lernens für die Hochschulen, aber auch für Wirtschaft und Gesellschaft, untersucht. Hierbei werden auch die Chancen der Integration neuer Medien in die Lernkonzeption analysiert. Offen blieb die Rolle des Forschenden Lernens in der Weiterbildung sowie die Sichtweise der Unternehmen auf diesen Ansatz.
Forschendes Lernen zeichnet sich vor anderen Lernformen dadurch aus, dass die Lernenden den Prozess eines Forschungsvorhabens, das auf die Gewinnung von für Dritte interessanten Erkenntnissen gerichtet ist, in seinen wesentlichen Phasen, von der Entwicklung der Fragen und Hypothesen über die Wahl und Ausführung der Methoden bis zur Prüfung und Darstellung der Ergebnisse in selbstständiger Arbeit oder in aktiver Mitarbeit in einem übergreifenden Projekt (mit)gestalten, erfahren und reflektieren. Die Studierenden lernen also zu hinterfragen und selbstständig begründete Fragen zu stellen, Wesentliches von Unwesentlichem zu trennen, Ursache-Wirkungs-Bündel zu selektieren, gesellschaftliche Folgen einzuschätzen, sich für methodische Optionen zu entscheiden, Ziele und Pläne in Projekten, häufig unter Zeitdruck, umzusetzen und in komplexen, risikobehafteten und durch Ungewissheit charakterisierten Situationen zu handeln. Sie bauen dabei neue mentale Strukturen auf und produzieren Wissen in Form von sichtbaren Artefakten. Dies können Zusammenfassungen bestehender Erkenntnisse, Forschungspläne, Erhebungsinstrumente oder Präsentationen der Ergebnisse sein. Voraussetzung dafür sind Wissen und Qualifikationen zum Finden, Lesen und Einordnen wissenschaftlicher Texte, zur Anwendung diverser Forschungsmethoden oder zur Aufbereitung der Ergebnisse.
Forschendes Lernen ist damit geeignet, das Positive am Bologna Prozess zu heben, nämlich die Förderung von Selbstständigkeit, Reflexion und Nutzung von Eigenzeit, die Berücksichtigung individueller Lernbiografien sowie Lebenslanges Lernen. Dies erfordert eine Neubetrachtung des Verhältnisses von Hochschulstudium und Forschung in der professionellen Praxis. Daraus ergibt sich eine Neubestimmung von Bildung durch Wissenschaft, weil Hochschulbildung nach Ludwig Huber (2009) „Teilhabe an Wissenschaft nach einem niemals abgeschlossenen Prozess“ wird.
Fazit
Dieser Sammelband bietet einen hervorragenden Überblick über den aktuellen Stand der Diskussion des Forschenden Lernens im deutschsprachigen Bereich. Die grundlegengen Fragen, die bei diesen Lernarrangements zu beantworten sind, werden fundiert und prägnant bearbeitet. Im Abschnitt zu den einzelnen Fächern findet der Leser eine Vielzahl von Anregungen und Erfahrungen aus der Hochschulpraxis, die er in seinem eigenen Anwendungsbereich umsetzen kann. Die abschließenden Perspektiven vermitteln eine sehr gut nachvollziehbare Vision des Forschenden Lernens in der zukünftigen Hochschullandschaft.
Offen bleibt die Frage, wie Forschendes Lernen in den Hochschulen mit den Kompetenzentwicklungskonzeptionen in der beruflichen und betrieblichen Bildung verknüpft werden kann und welche Beiträge es zu diesen Lernprozessen leisten kann. Nachdem die Arbeitswelt immer digitaler wird, sollte auch dem Aspekt der Forschung mit digitalen Medien ein größerer Raum eingeräumt werden. Es wäre schön, wenn diese Fragen in einem weiteren Band untersucht würden.
Den Sammelband „Forschendes Lernen“ sehe ich als Pflichtlektüre für alle Lehrenden in Hochschulen und Fachhochschulen, die ihre Aufgabe darin sehen, ihren Studierenden das Lernen im Sinne der Problemlösungsfähigkeit, also Kompetenzentwicklung, zu ermöglichen.
Harald A. Mieg, Judith Lehmann (Hrsg.): Forschendes Lernen. Wie die Lehre in Universität und Fachhochschule erneuert werden kann. Campus Verlag(Frankfurt) 2017. 448 Seiten. ISBN 978-3-593-50140-6. D: 29,95 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 36,80 sFr.