Der Markt für Fernstudiengänge ist mit 7 % jährlichem Wachstum einer der am stärksten wachsenden Bereiche des Bildungsmarktes. Fast 160.000 Studierende sind 2016 in Fernstudiengängen eingeschrieben (IUBH 2016, S. 6). Da die Studierendenzahlen bis 2025 weiter steigen werden (vgl. Berthold, Herdin, von Stuckrad & Gabriel 2012) und die Nachfrage nach Weiterbildung aufgrund der dynamischen Veränderungen am Arbeitsmarkt zunehmen wird, scheint das aktuelle Geschäftsmodell der Fernstudienanbieter vordergründig keiner Veränderung zu bedürfen – oder doch?
Die wichtigsten Gründe für die Aufnahme eines Fernstudiums sind heute mit 71,4 % die Verbesserung der individuellen Chancen am Arbeitsmarkt, knapp gefolgt mit 71,1 % von beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten ( IUBH 2016, S. 11). Die Funktion des Fernstudiums als Quelle für die Vertiefung fachlicher Qualifikation verliert dagegen deutlich an Bedeutung. Dies bedeutet, dass die Teilnehmer in Fernstudiengängen zunehmend Fähigkeiten aufbauen wollen, die sie in der zukünftigen, immer mehr digitalisierten Arbeitswelt benötigen. Diese digitalen Kompetenzen setzen zwar Wissen über digitale Systeme im Arbeitsprozess und die Qualifikation zu deren Nutzung voraus, umfassen jedoch deutlich mehr Fähigkeiten.
Digitale Kompetenzen sind die Fähigkeit, Herausforderungen in der Arbeits- und Lebenswelt mit Hilfe digitaler Systeme selbstorganisiert und kreativ lösen zu können. Diese Kompetenzen können nicht „vermittelt“ werden, sondern nur bei der Bewältigung von Herausforderungen mit digitalen Systemen selbstorganisiert aufgebaut werden. Das Phänomen, an althergebrachten Methoden in der Bildung festzuhalten, obwohl ihre Ineffektivität vielfach nachgewiesen wurde, beobachten wir in nahezu allen Bereichen. Dies kann für die Fernstudien-Anbieter gefährlich werden, da neue Anbieter, die wir heute noch nicht kennen, in solche Lücken stoßen können. So hat beispielsweise der jungen Online-Anbieter Udemy mit weltweit bereits mehr als 10 Mio. Teilnehmern und attraktiven Bedingungen für Dozenten, seine Kurspreise gerade unter das Volkshochschul-Niveau gesenkt. Udemy, das zwischenzeitlich bereits über 500 deutschsprachige Kurse aufgebaut hat, kann alle Zielgruppen erreichen, die formelle, berufliche Bildung nachfragen, aber mit wesentlichen Vorteilen. Udemy-Angebote sind sehr kostengünstig, können losgelöst von Ort und Zeit genutzt werden und unterwerfen sich einem Qualitätsmanagement durch die Dozenten-Community.
Die Anbieter von Fernstudien benötigen aus diesem Grunde heute grundlegend neue Geschäftsmodelle, die den veränderten Anforderungen gerecht werden. Sonst verlieren sie in absehbarer Zeit ihre Wettbewerbsfähigkeit. Deshalb ist ein Paradigmenwechsel erforderlich.
Die Ansprüche der Lerner an die Verfügbarkeit und Bereitstellung von Lernmitteln im Fernstudium haben in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Online-Campus, digitale Skripte und videobasierter Lehrinhalte sind heute Standard. Die Bereitstellung von Lern-Apps, Simulationen und Online-Prüfungen, aber auch die Optimierung digitaler Studienbriefe für mobile Endgeräte und eine bessere Vernetzung der Fernstudierenden untereinander, gewinnt an Bedeutung (IUBH 2016, S. 33). Nahezu alle Anbieter setzen auf wissensorientierte Studienbriefe, die mit mehr oder weniger gut ausgebauten Lernplattformen im Netz ausgeschmückt werden. In den letzten fünf Jahren haben die meisten Fernhochschulen große Teile ihres Lernmaterials um digitale Lernmedien ergänzt und stellen Studienskripte und Übungshefte digital bereit, auch ermöglichen sie eine Kommunikation mit Fachpersonal über das Internet. In vielen Fällen wurde zudem ergänzendes Material für den E-Learning-Einsatz produziert und wurden Präsenzanteile der Studiengänge durch Onlineinhalte substituiert oder angereichert. Dies umfasst insbesondere die Entwicklung von synchronen oder asynchronen Video-Vorlesungen, die Implementierung webbasierter Simulationen, das Bereitstellen von Online-Tests oder auch die Programmierung von Lernapps (IUBH 2016, S. 20).
Auch in Fernkursen dominiert also nach wie vor das sogenannte „Bulimielernen“, viel Wissen pauken, in der Prüfung ausspucken und dann meist schnell vergessen. Das Ziel der Teilnehmer ist im Regelfall, ein Zertifikat zu erlangen, das ihnen Türen in Wirtschaftsberufe öffnet. Mit Kompetenzentwicklung hat derartiges Pauklernen nichts zu tun. Diese starren Konzepte werden noch durch die ZFU – Zentralstelle für Fernstudienunterricht – zementiert, die mit den Fernstudienanbietern ein erprobtes Genehmigungsverfahren routiniert durchzieht. Innovative Anbieter werden durch diese formellen, teuren Hürden eher abgeschreckt. Diese staatliche Genehmigungsstelle wurde in den Siebzigerjahren eingerichtet, als man glaubte, den unmündigen Bürger vor allem und jedem schützen zu müssen. Warum der Gesetzgeber sich dieses Fossil aus einer vergangenen Zeit weiter leistet, obwohl wir heute ganz andere Möglichkeiten der Bewertung von Anbietern, z.B. in Sozialen Netzen, haben, bleibt ein Rätsel.
Die Digitalisierung der Arbeitswelt hat tiefgreifende Konsequenzen für die berufliche Bildung und damit für die Nachfrage nach Fernstudienangeboten. Der Bildungsbereich ist ein Spiegelbild der Lebens- und Arbeitswelt. Wenn die Mitarbeiter auf ihre zukünftigen Herausforderungen vorbereitet werden sollen, dann müssen Lernformen, Kommunikationsmöglichkeiten und Medien dem aktuellen Umfeld entsprechen, im besten Fall sogar die Zukunft in diesem Bereich vorwegnehmen. Daraus ergibt sich zwingend, dass auch die Bildung digitalisiert werden muss.
Die Entwicklung der Bildungssysteme und damit auch der Fernkurse wird nach unserer Überzeugung besonders durch folgende Merkmale geprägt:
- Künftiges Lernen ist vor allem selbstorganisierte Kompetenzentwicklung und findet fraglos in und mit dem Netz statt – Das Netz ist einer der wichtigsten sozialen Räume künftiger Kompetenzentwicklung.
- Bildungsziele müssen die Fähigkeiten zum selbstorganisierten, kreativen, physischen und geistigen Handeln, zur selbstorganisierten Bewältigung von Herausforderungen werden, d.h. personalisierte Kompetenzziele.
- Die didaktische Gestaltung des Lernens, weg von einer „Belehrungsdidaktik“ hin zu einer Ermöglichungsdidaktik, die selbstorganisiertes Lernen in realen Herausforderungen, z.B. am Arbeitsplatz oder in Praxisprojekten, ermöglicht, gewinnt mehr und mehr Vorrang. Wissensaufbau, Qualifizierung und Kompetenzentwicklung werden in die Eigenverantwortung der Lerner übertragen.
- Bildungsinstitutionen konzentrieren sich zunehmend auf die Gestaltung die Gestaltung der Lernarchitektur, eines Ermöglichungsrahmens für die Bildungsprozesse, sowie die Lernbegleitung und die Begleitung der notwendigen Veränderungsprozesse. Ansonsten gehört alle Macht den Lernern und ihren Lernbegleitern, die innerhalb der Vorgaben den Lernrahmen gestalten und Lernprozesse ermöglichen.
- Die Bewertung von Lernleistungen fordert nicht mehr, viel zu wissen, sondern Wissen zur Lösung von Herausforderungen methodisch sinnvoll nutzen zu können.
Diese Paradigmenwechsel stellen vieles in Frage, was die heutigen Bildungssysteme prägt. Es gibt aber keine Alternative dazu, wenn unsere Wirtschaft wettbewerbsfähig bleiben soll. Dies hat weitgehende Konsequenzen für die Fernstudien-Anbieter.
Die Herausforderung in der Konzipierung kompetenzorientierter Fernlern-Arrangements besteht folglich darin, den Lernern einen Ermöglichungsrahmen zu bieten, um ihre Kompetenzen selbstorganisiert, in einem kommunikativen Prozess mit Lernpartnern (Netzwerk), aufzubauen. Dabei gehört es zum notwendigen Design eines Entwicklungsprozesses, dass verschiedene Formen des kollaborativen Lernens ermöglicht werden. Darunter verstehen wir Lernen im Rahmen realer Herausforderungen, das auf langfristige, gemeinsame Lernprozesse sowie zusammen vereinbarte Ziele zielt. Dieses Lernen erfolgt beim gemeinsamen Erarbeiten einer Lösung für eine Praxisaufgabe, der gemeinsamen Bearbeitung eines Praxis- oder Forschungsprojektes oder der gegenseitigen Reflexion und Bewertung. Im Rahmen eines gegenseitigen Coaching werden die Lerner befähigt, ihre Praxis zu bewältigen. In Lerntandems und in kleinen Gruppen sollen sie sich im gegenseitigem Austausch, also kommunikativ und in der Form „kleiner Netze“, gegenseitig in ihrer Entwicklung unterstützen.
Deshalb schlagen wir vor, neben den traditionellen, curriculum-orientierten Fernstudien-Angeboten, zunehmend kompetenzorientierte Lernarrangements anzubieten, in denen die Teilnehmer die Möglichkeiten erhalten, ihre eigenen Herausforderungen, die sie im Arbeitsprozess zu bewältigen haben, zu bearbeiten und mit Lernpartnern und Unterstützung eines professionellen Lernbegleiters Lösungen zu entwickeln.
Daraus leitet sich folgende Lernarchitektur zukünftiger Fernstudiengänge ab:
- Kompetenzentwicklung auf der Praxisstufe: Handlungs- und Erlebnislernen bei der Bewältigung von Herausforderungen aus der eigenen Arbeitspraxis, die von den Teilnehmern nach einer Kompetenzmessung und einem Beratungsgespräch in Abstimmung mit ihrer Führungskraft definiert werden. Die kollaborative Bearbeitung dieser Problemstellungen bildet den „Roten Faden“ der Lernprozesse, so dass personalisiertes und kompetenzorientiertes Lernen möglich wird.
- Kompetenzentwicklung auf der Coachingstufe: Das Lernen in realen betrieblichen Prozessen oder Projekten und im Netz ergänzt die Praxisstufe. Die Teilnehmer lernen kollaborativ mit ihren Lernpartnern („Co-Coaching“) und werden durch einen professionellen Lernprozessbegleiter („Kompetenz-Coaching“) gezielt unterstützt. Die jeweiligen Führungskräfte bringen sich als Entwicklungspartner (Mentor) ein und wachsen aus der Rolle des traditionellen Vorgesetzten heraus.
- Kompetenzentwicklung auf der Trainingsstufe: Diese Entwicklungsstufe kann insbesondere bei technischen Themen diesen Ansatz ergänzen, indem die Teilnehmer in realitätsgleichen, nicht realitätsnahen, Lernszenarien, z.B. in Werkstätten oder vor Ort am Arbeitsplatz, Kompetenzen aufbauen.
Die Lerner können damit ihre Lernprozesse auf Basis von Social Blended Learning direkt im Prozess der Arbeit (Workplace Learning), unabhängig von Ort und Zeit (Mobile Learning), gemeinsam mit ihren Lernpartnern (Social Learning) und nach dem individuellen Bedarf on demand (Micro Learning) gestalten und steuern. Ergänzt werden die individuellen Lernaktivitäten durch einen kontinuierlichen Austausch im Rahmen von Communitiies of Practice, in der die Teilnehmer selbstorganisiert ihre Erfahrungen aus den Projekten und aus ihrer Praxis austauschen und gemeinsam weiter entwickeln. Mit dieser Lernarchitektur werden Lernprozesse möglich, die durch Kompetenzorientierung und Selbstorganisaition geprägt sind und deren „Roter Faden“ Praxisprojekte oder Herausforderungen im Arbeitsprozess bilden.
Für Fernstudienanbieter eröffnen sich neue, attraktive Marktchancen , sofern sie ihre Geschäftsmodelle radikal verändern. Nicht mehr Bulimie-Lernen auf Basis von theorielastigen Studienbriefen, sondern Lernarrangements, die es den Teilnehmern ermöglichen, eigene Praxisprojekte in eine Lerngemeinschaft einzubringen, die in kollaborativen Lernprozessen innerhalb eines bedarfsgerechten Lernrahmens gemeinsam Lösungen entwickelt. Damit könnten Fernstudienanbieter zu strategischen Partnern in der betrieblichen Kompetenzentwicklung, insbesondere auch für klein- und mittelständische Unternehmen, werden.
Der Nutzen für die Teilnehmer ist deutlich höher als heute:
- Sie bauen nachhaltig Kompetenzen zur Bewältigung der Herausforderungen in einer zunehmend digitalen Arbeitswelt auf,
- sie entwickeln die Medienkompetenz, digitale Systeme zum selbstorganisierten Aufbau von Wissen, Qualifikation und Kompetenzen zu nutzen,
- sie entwickeln ihr persönliches Netzwerk und ihre Netzwerk-Kompetenz weiter,
- sie erarbeiten kollaborativ unter professioneller Begleitung eine Problemlösung für eine reale Problemstellung aus der Praxis.
Alle erforderlichen Systeme sind, auch auf Open-Source-Basis, vorhanden und erprobt. Die Umsetzung dieses Ansatzes erfordert eine grundlegende Veränderung der Konzeptionen, der Lernkultur sowie der Rollen aller Beteiligten, und damit Zeit. Deshalb ist es notwendig, jetzt damit zu beginnen, die Strategie der Fernstudienanbieter zu verändern und ein zukunftsorientiertes Geschäftsmodell umzusetzen.