Industrierevolution 4.0  = Lernrevolution?

Bereits vor fast neun Jahren beschrieben Henning Kagermann, Wolfgang Wahlster und Wolf-Dieter Lukas den Weg zur Industrie 4.0. Heute haben 70 % der deutschen Unternehmen mindestens einen Anwendungsfall für Künstliche Intelligenz im Einsatz. Damit ist die deutsche Industrie führend. Vergleichbare Zahlen für die Vereinigten Staaten liegen bei 28 % und für China 11 %. [1] Gleichzeitig haben sich immer mehr agile Arbeitsformen durchgesetzt, die einen grundlegenden Wandel des „Mindsets“, d. h. der Kultur und Werte im Umgang der Mitarbeiter und ihrer Führungskräfte miteinander zur Folge haben. Der nächste Schritt der Integration des Mobilfunkstandards 5G in die Industrie 4.0 wird zu einem weiteren Effizienz- und Produktivitätsschub führen und diese Trends noch verstärken.

Eine vergleichbare Entwicklung ist im Lernbereich nur ansatzweise zu beobachten, obwohl betriebliches Lernen die Mitarbeiter doch für die zukünftigen Herausforderungen der digitalen Transformation fit machen soll. Natürlich gibt es einzelne, beeindruckende Beispiele für revolutionäre Lernkonzepte, z. B. im Bereich der Virtual Reality, der Simulationen oder Konzeptionen des Workplace Learning. Die große Masse der Unternehmen verharrt jedoch weiterhin in einer Lernwelt, die vor allem durch Belehrung, Vorrats- oder gar Bulimielernen und Fremdsteuerung geprägt ist.

Die betriebliche Lernwelt muss zu einem Spiegelbild der Arbeitswelt werden, d. h. Entwicklungen der Industrie 4.0 verinnerlichen, im besten Fall sogar vorwegnehmen, wenn sie die Menschen auf die digitalisierte Zukunft vorbereiten will. Davon sind wir leider weit entfernt. Auch die innovativen Bildungsbereiche, die ihre Lernangebote lediglich digitalisieren, werden diesem Anspruch nicht gerecht, da sie in ihren Lernprozessen doch nur bestehende Prozesse digital abbilden.  Sie machen es damit nicht möglich, dass sich ihre Mitarbeiter auf die, teilweise radikale, Transformation der Geschäftsmodelle vorbereiten. Dies wird nur möglich sein, wenn sich auch das Geschäftsmodell des Corporate Learning radikal verändert.

Die Starrheit unserer betrieblichen Bildungssysteme  wurde mir kürzlich bei einer Veranstaltung deutlich, als mehrere namhafte Großunternehmen stolz ihre Maßnahmen vorstellten, um ihre Mitarbeiter auf die Herausforderungen der digitalen Zukunft vorzubereiten. Gezeigt wurden ohne Ausnahme wissens- und „skill“-orientierte Seminare und Workshops im Sinne des Vorratslernen, teilweise um E-Learning-Angebote oder Lernvideos erweitert.

Nach unserem Verständnis erfordert die digitale Transformation jedoch eine grundlegende Veränderung der Denk- und Handlungsweisen aller Mitarbeiter, die durch Selbstorganisation, Eigenverantwortung, Entscheidungsfähigkeit, Zielorientierung, Kommunikation oder Kollaboration, aber auch durch Verantwortung, Respekt, Ideale, Kreativität oder Gemeinnutz geprägt sind. Es geht also primär um Kompetenzen, den Fähigkeiten selbstorganisiert und kreativ auch heute noch nicht bekannte Herausforderungen zu bewältigen, und es geht um Werte, die als Kerne von Kompetenzen den Mitarbeitern als Ordner ihres selbstorganisierten Handelns heute und in der Zukunft dienen. Erst damit wird es für die Mitarbeiter möglich, auch dann zu entscheiden und zu handeln, wenn ihnen nicht alle Informationen zur Verfügung stehen. Werte überbrücken damit fehlendes Wissen, können jedoch nicht „vermittelt“ werden, sondern nur selbstorganisiert durch die Mitarbeiter bei der Bewältigung von Herausforderungen in der Praxis aufgebaut werden.

Arbeiten und Lernen muss wieder zusammenwachsen (Workplace Learning).  

Damit wird ein Paradigmenwechsel in der betrieblichen Bildung erforderlich. Die Ziele werden nicht mehr in Curricula mit vorgegebenen formellen Lernzielen und -inhalten, die für alle Mitarbeiter gleich gelten und bereits veraltet sind, wenn sie veröffentlicht werden, sondern durch jeden Mitarbeiter individuell auf Basis seiner persönlichen Werte- und Kompetenzerfassung in Hinblick auf die geplanten Herausforderungen definiert. Dabei benötigt er professionelle Beratung durch einen Lernbegleiter.

In unseren Praxisprojekten haben wir zudem eine weitere, grundlegende Erfahrung gemacht. Haben wir bisher Lernmaßnahmen meist vom einzelnen Mitarbeiter aus geplant, um dann evtl. die Frage zu stellen, welche Entwicklungsmaßnahmen die einzelnen Teams oder gar die gesamte Organisation benötigen, zeigt es sich nun, dass Werte- und Kompetenzentwicklung auf der Organisationsebene starten muss, damit der erforderliche kulturelle Rahmen für teambezogene und individuelle Entwicklungsprozesse gestaltet werden kann. Diese Kultur ist ein System von Werten, aber auch verinnerlichter Normen und Regeln, die das Wahrnehmen, Denken und Handeln aller Mitarbeiter und Führungskräfte bestimmen. Werte- und Kompetenzmanagement auf Team- und Organisationsebene ist damit immer auch Kulturmanagement

Personal- und Organisationsentwicklung wird durch ein gezieltes Werte-, Kultur- und  Kompetenzmanagement auf den Ebenen der Organisation, der Teams und der Individuen abgelöst.

Dabei ist von zentraler Bedeutung, dass Team- und Organisationswerte sowie -kompetenzen nicht die Summe der individuellen Werte und Kompetenzen sind, sondern sich in eigenen Prozessen entwickeln. Deshalb erfordert Werte- und Kompetenzmanagement auf allen Ebenen eigene Entwicklungsprozesse.

Die erforderlichen Entwicklungsprozesse für die Vorbereitung der Mitarbeiter auf die digitale Transformation können aufgrund unserer Erfahrungen nach folgendem Grundschema gestaltet werden:

  1. Symbolische Führung durch die obere Führung, z. B. über einen regelmäßigen, persönlichen Blog der Geschäftsleitung, vor allem zu wertebeladenen Themen, durch aktive Mitwirkung in organisationsweiten Werte- und Kultur-Entwicklungsmaßnahmen, durch werteorientiertes Handeln in kritischen Situationen, aber auch durch die Gestaltung der Umwelt, z. B. durch offene, hierarchiefreie Bürolandschaften ohne eigene, abgeschlossene Büros der Führungskräfte.
  2. Barcamp zum Lernen für die Zukunft: Alle Mitarbeiter erhalten vor Beginn des Veränderungsprozesses die Gelegenheit, als „Teilgeber“ ihre Fragen, Bedenken und Ängste, insbesondere aber auch eigene Wünsche, Anregungen und Vorschläge organisationsweit vorzustellen und zu diskutieren.
  3. Werte- und Kompetenzerfassung auf Organisationsebene: Die Einschätzung der Ist-Werte in der Organisation, aber auch die Festlegung der Wunsch-Werte der Mitarbeiter in Verbindung mit den organisationalen Kompetenzen ermöglichen die Analyse und Bewertung der Organisationskultur. Auf dieser Basis werden in einem Workshop mit Fach- und Führungskräften die Sollwerte und die angestrebten Kompetenzen definiert und in einem ersten Entwurf der Mission zusammengeführt. Gleichzeitig werden geeignete „Korridorthemen“ definiert, in denen die Organisation, die Teams und Mitarbeiter ihre Herausforderungen über alle Ebenen hinweg bearbeiten können.
  4. Organisationsweite Kommunikation: In einem digitalen Kommunikationsraum im Intranet können sich alle Mitarbeiter nach dem Prinzip von cMOOC mit den einzelnen Aspekten der neuen Lernkonzeption auseinandersetzen. Hierfür werden jeweils Themenwochen, z. B. zu einzelnen Pilotprojekten, die durch eine Paten aus der Organisation betreut werden, definiert. Am Ende der Themenwochen bildet sich ein Team, das die Ergebnisse nach dem Prinzip des Hackathon in ein bis zwei Tagen zusammenführt, indem die Mission des betrieblichen Lernens weiter entwickelt wird. Der digitale Kommunikationsraum dient gleichzeitig auch dazu, Ergebnisse aus dem Veränderungsprozess zu dokumentieren. Diese Ergebnisse bilden die Grundlage für die Neugestaltung des Werte-, Kultur- und Kompetenzmanagements in der Organisation. Es hat sich bewährt, diesen Prozess durch ein agiles Entwicklungsteam mit Vertretern aus allen Bereichen der Organisation zu gestalten.
  5. Teamentwicklung: Jedes Team erfasst seine Ist- und Wunschwerte sowie seine Kompetenzen und leitet daraus, orientiert an den strategischen Vorgaben, sein Soll-Profil und seine Ziele ab. Die Teams bearbeiten in ihrem jeweiligen Handlungsbereich die Korridorthemen, berichten im digitalen Kommunikationsraum über ihre Erfahrungen und bauen Communities of Practice auf.
  6. Mitarbeiterentwicklung: Jeder Mitarbeiter erfasst seine individuellen Werte und Kompetenzen und leitet daraus mit Beratung seines Lernbegleiters seine individuellen Ziele ab. Dadurch werden personalisierte Werte- und Kompetenzentwicklungsprozesse im Prozess der Arbeit möglich, die jeder Mitarbeiter mit seiner eigenen Führungskraft verbindlich vereinbart.

Die Führungskräfte werden zu Entwicklungspartnern (Mentoren) ihrer Mitarbeiter.

Für die Übergangsphase von fremdgesteuerten Lehrarrangements zu selbstorganisierten Lernprozessen schlagen wir die Methode des Social Blended Learning vor, weil die Mitarbeiter dabei über die gezielte und begleitete  Bearbeitung von Herausforderungen in der Praxis nach und nach in die Welt des Social Workplace Learning geführt werden.

Damit wird ein organisationsweiter Veränderungsprozess in Gang gesetzt, der alle Ebenen mit allen Führungskräften und Mitarbeitern mit einbezieht. Die heutige Personalentwicklung verändert ihre Rolle zur Konzipierung und Begleitung dieser Prozesse, zum Aufbau und zur laufenden Weiterentwicklung des Lernrahmens und zur Begleitung der Werte- und Kompetenz-Entwicklungsprozesse der Führungskräfte, der Lernbegleiter, der Teams und der Mitarbeiter.

[1] Capgemini, nach FAZ 21. 12. 2019 S. 20

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