Diese Woche durfte ich in Berlin an einer Tagung der Bertelsmann-Stiftung zur Anerkennung von Kompetenzen teilnehmen. Dieses Thema hat deutlich an Brisanz gewonnen, weil durch die hohe Zahl der Flüchtlinge der Bedarf für eine geeignete Kompetenzerfassung sprunghaft zugenommen hat. Abgesehen von den Ärzten und Ingenieuren können die meisten Flüchtlinge aus Afghanistan, dem Irak oder Syrien kaum Qualifikationsnachweise vorweisen. Trotzdem besitzen sie natürlich umfangreiche Kompetenzen. Dies hat beispielsweise Jenny Erpenbeck in ihrem neuen Roman am Beispiel eines Libyers sehr anschaulich beschrieben, der in seiner Heimat einen Handwerksbetrieb hatte, in dem er kunstvolle Stahltore gebaut hat. Eine hoch kompetente Fachkraft ohne zertifizierte Qualifikation. Wir sollten dabei aber auch nicht vergessen, dass auch die Zahl der deutschen Arbeitnehmer ohne qualifizierten Abschluss in die Millionen geht.
Die Veranstaltung sollte wichtige Impulse geben, um mögliche Lösungen voran zu treiben, Deshalb waren neben Vertretern der Bertelsmann Stiftung ein Vorstand der Bundesagentur für Arbeit, ein Vizepräsident des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, zwei Bundestagsabgeordnete sowie Prof. Severing vom vom f-bb eingeladen. Dies verhinderte leider nicht, dass die Veranstaltung nach meinem Empfinden mehr als enttäuschend war.
Obwohl wir doch immer wieder erfahren, dass es wohl wenige Begriffe gibt, die unterschiedlicher interpretiert werden als Kompetenzen, machte sich in der Tagung niemand die Mühe, klar zu stellen, über was gesprochen wird. Deshalb verwunderte es dann auch nicht, dass überwiegend über Fachwissen und Qualifizierungen diskutiert wurde, welche die Flüchtlinge beispielsweise in Häppchen über viele Jahre hinweg auf einen Berufsabschluss hin absolvieren sollen. Die Lösung kann doch wohl nicht darin liegen, dass man Menschen die zehn Jahre und mehr Berufserfahrung haben, dazu zwingt, viele Jahre lang formelle Teilabschlüsse zu erlangen.
Paradox daran ist, dass z.B. jeder Handwerksmeister bereits nach wenigen Tagen genau einschätzen könnte, ob jemand Kompetenzen für die Bewältigung von Arbeitsaufträgen, z. B. auf einer Baustelle, hat oder nicht. Wäre es dann beispielsweise nicht besser, Arbeiten zur Probe zu unterstützen als über formale Zertifizierungen für Teilqualifikationen nachzudenken?
Diese Diskussion verweist auf ein grundlegendes Problem, das es zu lösen gilt. Sowohl der Theoriebildung als auch der bisherigen Praxis betrieblichen Kompetenzmanagements fehlt es bislang an Instrumenten und Verfahren, juristisch abgesicherte Kompetenzeinschätzungen vorzunehmen, die für Transfer, Nutzung und Weiterentwicklung von Kompetenzen von wesentlicher Bedeutung sind.
Wie wichtig eine solche Veränderung von der Qualifikations- zur Kompetenzzensur wäre, lässt sich besonders in Bezug auf die demographische Entwicklung in Deutschland veranschaulichen. Die Zunahme ausländischer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist in Deutschland aufgrund der demographischen Entwicklung auch ohne die aktuelle Flüchtlingssituation vorprogrammiert. Gut ausgebildete oder noch auszubildende Mitarbeiter aus anderen Ländern zu gewinnen, setzt jedoch voraus, ihre Kompetenzen beurteilen zu können. Deshalb muss ein rechtlich abgesichertes Verfahren gefunden werden, um Kompetenzen perspektivisch europaweit beurteilen und vergleichen zu können. Das würde auch der Empfehlung des Rates der Europäischen Union an die Mitgliedstaaten folgen, bis 2018 im Einklang mit den nationalen Gegeben- und Besonderheiten Regelungen zur Validierung nicht-formalen und informellen Lernens und der Kompetenzentwicklung einzuführen.[1] Die Erfahrungen anderer Länder zeigen, dass die durch eine Kompetenzzertifizierung zum Ausdruck gebrachte Wertschätzung des Einzelnen ein treibendes Element für das lebensbegleitende Lernen ist.[2]
Um juristisch saubere und für ein Kompetenzmanagement nutzbare Ergebnisse zu erhalten, die dem Individuum gerecht werden, sollten Ermittlung und Bewertung der Kompetenzen Elemente qualitativ biographischer und quantitativ diagnostischer Kompetenzerfassung und -messung enthalten, also hybride Verfahren darstellen. [3]
Für den Einsatz qualitativer biographischer Elemente, wie z.B. der Profilpass, spricht, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich mit sich selbst auseinandersetzen, sich mit den Ergebnissen von Lernen, Studium und Arbeit stärker identifizieren sowie deutlicher motiviert und bereit sind, sich auf Veränderungsprozesse einzulassen oder diese mitzugestalten.
Quantitativ ausgerichtete Verfahren, wie z.B. KODE® und KODE®X hingegen bieten die Möglichkeit, Kompetenzen auf den wirklichen schulischen, hochschulischen oder betrieblichen Bedarf zugespitzt zu ermitteln, mit zensurenanalogen Wertungen zu belegen und ihre Entwicklung auf diese Weise zu fördern. Quantitative Verfahren sind zudem zeitlich weniger aufwändig als biographische Verfahren.
Gelänge es, in Deutschland ein nationales, verbindliches und an den Standards der formalen Berufsbildung orientiertes System der Validierung non-formalen und informellen Lernens zu entwickeln, würde dies mit dazu beitragen, die Kompetenzorientierung in den Lernsystemen durch zu setzen, den Fachkräftebedarf besser abzudecken und Menschen mit geringer formaler Qualifizierung in den Arbeitsmarkt zu integrieren.[4] Was wie eine kleine bürokratische Veränderung wirkt, wäre – durchgesetzt – der wohl wichtigste Schritt, die Menschen mit Kompetenzen, aber ohne Zertifikate, in den Arbeitsprozess zu integrieren.
Leider blieben diese zwingend notwendigen Aspekte der Diskussion völlig außer Betracht. Es ist zu befürchten, dass das institutionelle Wirrwar aus Bundesministerien, Landesministerien, diversen Anstalten nach vielen Sitzungen zu Lösungen führen wird, die sehr viel mit der Zertifizierung von formalen Qualifizierungen, aber kaum etwas mit Kompetenzen zu tun haben.
[1] Europäisches Parlament und der Rat der Europäischen Union. (2008). S. 3
[2] vgl. u.a. Geldermann, B.; Seidel, S.; Severing, E. (2009)
[3] Vgl. Erpenbeck, J. (Hrsg.) (2012)
[4] Vgl. Gaylor, G.; Schöpf, N.; Severing, E. (2015), S. 70 ff.