Kompetenzentwicklung im Netz – ist eine neue Lerntheorie notwendig?

Das Verständnis von Lernen verändert sich radikal.[1] Die klassischen Vorstellungen von einer „Wissensvermittlung“, bei der Wissen über herkömmliche (Rede) oder moderne (Netz) Kommunikationskanäle in die Köpfe der Nutzer übertragen wird, ist nachweislich falsch. Wissensaufbau ist eine konstruktive Leistung des je einzelnen (vgl. Siebert 2007; Arnold 2012, 2015). Wie kann das funktionieren?

Gelingende Kompetenzentwicklung hat, neben dem Aufbau von Sach- und Fachwissen und der Qualifikation als notwendige Voraussetzung, bei den Lernenden, viel breitere Dimensionen. Die Vielzahl von früheren Lerntheorien, insbesondere behavioristischer oder kognitivistische Provenienz, greift viel zu kurz, weil das Lernsubjekt in seinen kulturhistorischen Verankerungen, seinen Lebensinteressen und seinem selbstorganisierten Handeln in diesen Theorien gar nicht vorkommt ( vgl. Holzkamp 1995). Kompetenzentwicklung kann nur selbstorganisiert, bei der Bewältigung realer Herausforderungen erfolgen. Eine Pädagogik der Anleitung zur Selbstentwicklung ist deshalb paradox. Dieser Paradoxie kann nicht entkommen werden (Arnold 2017).

Rolf Arnold hat hierzu drei Thesen formuliert (vgl. Arnold 2017):

  • Menschen werden in ihren Möglichkeiten, die Welt zu deuten und sich selbst gegenüber den Anforderungen dieser Welt zu positionieren durch ihre frühen emotionalen Einspurungen bestimmt. Im fortschreitenden Lebenslauf sehen sie dann die Herausforderungen nicht, wie diese – bei nüchterner Betrachtung – sind, sondern stets nur so, wie sie selbst diese auszuhalten vermögen.
  • Menschen lernen ein Leben lang. Dabei sind sie „lernfähig, aber unbelehrbar“ (Siebert 2015). Dies bedeutet, dass Belehrungen stets suboptimal bleiben: „Gelernt werden kann nur das, was für ein Lebewesen bedeutsam ist“ (Hüther 2016, S. 41ff).
  • Veränderungen im Sinne einer nachhaltigen Musterveränderung sind möglich. Sie setzen aber Erfahrung im Umgang mit selbsteinschließenden Reflexionsformen (vgl. Siebert 2011) voraus. Diese zu habitualisieren, erweist sich mehr und mehr als Kern einer gelingenden Persönlichkeitsreifung.

Kompetentes Handeln basiert auf langfristigen Lernprozessen, die durch regelmäßige Rückbesinnung auf die eigenen Lernerfahrungen geprägt sind, da kognitive und emotionale Strukturen und Prozesse in einem dynamischen Prozess aktiv und nachhaltig verändert werden müssen. Es ist deshalb nicht möglich, Handeln allein auf der Interaktionsebene mit einem Lehrer oder Trainer zu entwickeln, ohne dass zuvor die situationsübergreifenden Ziele und Pläne des Lerners verändert wurden. Deshalb müssen Kompetenzentwicklungssysteme auf der Planungsebene der Teilnehmer ansetzen, bevor die konkrete Umsetzung in der Praxis ermöglicht werden kann. (Erpenbeck & Sauter 2016, S. 112).

Rolf Arnold (2017) arbeitet klar heraus, dass Technologie allein nicht der eigentliche, obgleich vielfach bevorzugte Ansatzpunkt für eine Verbesserung der Nachhaltigkeit des Lernens und der Kompetenzentwicklung, sein kann. Als entscheidend stellt sich vielmehr die Frage nach der Angemessenheit des zugrundeliegenden Lernverständnisses.

Erst wenn Lernen als das gesehen und anerkannt ist, was es zu sein scheint – nämlich eine selbstorganisierte Aneignung, können auch eLearning-Frames als Ermöglichungs-Services nützlich werden (vgl. Overton/Dixon 2016, S. 25ff).

Wir benötigen deshalb eine Lerntheorie, in der das Lernen der Teilnehmenden im Vordergrund steht (Arnold 2017, S. 105). Dieses wird als ein prinzipiell offenes Geschehen angesehen, das von jeweils eigenen Lernprojekten der Lernenden ausgeht und diese begleitet. Wenn Lernen primär durch das Individuum und nicht durch die Umwelt bestimmt wird und Wissen als individuelle Konstruktion aufgefasst wird, ist Instruktion und Lehren als >Vermittlung von Wissen< streng genommen unmöglich. (Kraft 2006, S. 209).

Die Ermöglichungsdidaktik konzipiert Lernen und Kompetenzentwicklung als prinzipiell selbstorganisierte Aneignungsbewegung (Arnold 2017). Die Funktionen des Lehrens und des Mediums im Lernprozess verändern sich gegenüber den traditionellen Lernvorstellungen grundlegend:

  • Lehren wird zur fachlichen und außerfachlichen Begleitung bei der Bearbeitung individueller Lernprojekte auf der Basis transparenter Kompetenzanliegen,
  • während das Medium selbst vielfältige Zugangsoptionen zur selbsttätigen Aneignung eröffnet und dadurch teilweise an die Stelle des Lehrenden tritt,
  • dabei werden die gesellschaftlichen Erwartungen und Standards als Kompetenzprofile dem Lernenden von Anfang an zugänglich gemacht, so dass er diese selbst über die Anpassung seines Portfolios aus sich heraus entwickeln kann. Er bleibt, was er schon immer gewesen ist: Eigentümer seines Lernprozesses.

Das Zusammenwirken dieser Elemente erfolgt somit auch in der Ermöglichungsdidaktik nicht ohne eine voraussetzende – oder besser: rahmende – Funktion des „Lehrens“ – alles andere wäre bildungspolitisch fatal und würde auch den Maßgaben einer öffentlich verantworteten Bildung entgegenwirken. Dieses „Lehren“ hat aber längst die Belehrungsansprüche hinter sich gelassen. Es beschränkt sich vielmehr auf die Herstellung von Transparenz und Zugangsbegleitung. Dem Medium kommt in dieser Richtung der Teilnehmerorientierung eine besondere Bedeutung zu: Es wandelt sich zu einem bloßen Tor zu den prinzipiell offenen Inhaltswelten. Diese werden nicht länger von der Lehrperson monopolisiert, müssen vom Lernenden aber aufgefunden, geprüft, bearbeitet und angeeignet werden. Das Medium verliert dabei einerseits seine Besonderheit als didaktischer Entscheidungsfaktor, es gewinnt andererseits aber gerade dadurch an Relevanz, dass man seine Selbstverständlichkeit in Rechnung stellt (Arnold 2017, S. 107).

[1] vgl. im Folgenden die Beiträge von Rofl Arnold, John Erpenbeck und Werner Sauter in Erpenbeck & Sauter 2017: Handbuch Kompetenzentwicklung im Netz. Bausteine einer neuen Bildungswelt, Schäfffer Poeschel Verlag Stuttgart

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