Mit großen Erwartungen habe ich das Herausgeberbuch von Gerhard Roth, dem renommierten Verhaltensphysiologen und Gerhirnforscher, gelesen.In diesem Buch hat Gerhard Roth 14 Autorinnen und Autoren zusammengeführt. Diese stammen überwiegend aus dem Bereich der Bildungs- und Schulentwicklungsforschung, der Didaktik und Medienpädagogik sowie der Pädagogischen Psychologie, aber auch der Forschung zur Informationstechnologie.
Die Erwartungen an die Neurowissenschaften, aber auch die Versprechungen von Vertretern der Hirnforschung sind hoch. Dies gilt auch für den Bereich des Lernens. Dieser Sammelband ist eine Dokumentation der Vortragsreihe „Zukunft des Lernens“. Darin soll aus unterschiedlichen Blickwinkeln untersucht werden, wie das Lernen der Zukunft aussieht, wie neue Medien das Lernen unterstützen werden und wie sich die Art und Weise, wie wir lernen, verändern werden. Es sollen aktuelle Entwicklungen und neue Konzepte des Lernens und des schulischen Unterrichts mit dem Schwerpunkt des mediengestützten Lernens dargestellt werden. Der Anspruch ist, neben theoretischen Grundlagen auch praktische Ratschläge für das Lernen in Schule und Alltag zu geben.
In den letzten zwanzig Jahren hat die Gehirnforschung fundamental neue Einsichten in das Zusammenwirken von Großhirn und limbischem System, von Kognitionen und Emotionen gewonnen. Solange Computer nur auf der Informationsebene und nicht auch auf der emotionalen Ebene operieren (humanoide Computer), sind sie in ihren Funktionen als Lernpartner deutlich eingeschränkt. Die neueren Entwicklungen legen jedoch ganz neue Formen von Lernen und eine neue Partnerschaft mit der Lernpartner Computer nahe.
Bei vielen Bildungsplanern und Lehrern besteht offenbar wenig Phantasie, was innovative Medien zum selbstgesteuerten, individuellen Wissensaufbau, zur Recherche, zur Kommunikation oder zur Rückmeldung und damit zur kollaborativen Kompetenzentwicklung tatsächlich leisten können, wenn sie in ein geeignetes didaktisch-methodisches Konzept eingebettet werden. So stehen bei der Frage nach dem möglichen Einsatz von Computern in der Schule, die von der Initiative D21 (2014) untersucht wurde, in der Sicht der befragten Lehrer Videos, Filme und Präsentationen, also Frontalunterricht in medial aufbereiteter Form, an oberster Stelle. Bei den ersten zehn Antworten zur möglichen Mediennutzung wird das selbstgesteuerte oder kollaborative Lernen sowie die Kommunikation und Dokumentation im Netz überhaupt nicht genannt.
Die Entwicklungen im Bereich der digitalen Medien bieten jedoch weiterreichende Möglichkeiten, das Lernen und Lehren zu verändern. Mit den technologischen Fortschritten der letzten Jahre lassen sich inzwischen mit einem überschaubaren Aufwand Lernformen umsetzen, die in Einklang mit den Erkenntnissen der neueren Hirnforschung stehen. Dies hat Auswirkungen auf die schulische Didaktik und Methodik, vor allem, wenn die digitalen Medien nicht nur dazu dienen, traditionelle Methoden und Vorstellungen, wie z. B. häufig beim Einsatz von Whiteboards zu beobachten, dienen. Deshalb stellt sich die Frage, welche Lernformate auf Basis der Ergebnisse der Hirnforschung mit neuen Medien möglich und sinnvoll sind, wie sich das Verhältnis von Präsenz- und Onlinelernen wandelt und wie sich die Anforderungen an die Lehrenden, die Schüler, aber auch die Strukturen in den Schulen verändern.
Deshalb war ich sehr gespannt, was mir dieses Buch vermitteln kann. Um es vorweg zu nehmen, das Buch wird der eingangs formulierten Zielsetzung, das Lernen der Zukunft zu beschreiben, mit Ausnahme des ersten Beitrages, der die Rahmenbedingungen des Lernens in der Zukunft untersucht, in keinem der Beiträge gerecht. Erstaunlich ist auch, dass die Ergebnisse der zugrunde liegenden Vortragsreihe erst nach zwei Jahren veröffentlicht wurden, so dass ein großer Teil der zitierten Literatur zehn Jahre und älter ist. Damit kann kaum mehr der Anspruch erhoben werden kann, den aktuellen Stand der Forschung und Erfahrungen zur Zukunft des Lernens (!) darzustellen.
Die Mehrzahl der Beiträge wird dem eingangs definierten Anspruch, aus den Erkenntnissen der Neurobiologie theoretische Grundlagen für das zukünftige Lernen und praktische Ratschläge für das Lernen in Schule und Alltag zu geben, nicht gerecht. Die von Klaus Hurrelmann im ersten Beitrag klar und deutlich herausgearbeiteten Anforderungen an das zukünftige Lernen werden in keinem der folgenden Beiträge auch nur ansatzweise aufgegriffen. Neurobiologische Erkenntnisse zum Lernen und Neue Medien werden nur in wenigen Beiträgen thematisiert. Die meisten Autoren gehen weder auf den einen noch den anderen Aspekt des Titels des Bandes ein. Ein kritisches Lektorat wäre sicherlich sehr hilfreich gewesen.
Vermutlich gibt das folgende Zitat von Gerhard Roth die Begründung für die weitgehend Ignorierung des Buchtitels in den Themenbeiträgen: „Die Neurobiologie kann diesem Wissen (nämlich psychologisch-didaktisch-pädagogische Prinzipien, Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie, Lern- und Verhaltensstörungen) nur wenig neue Inhalte hinzufügen; erst recht kann sie nicht aus sich heraus Pädagogik und Didaktik ersetzen.“
Ein enttäuschendes und überflüssiges Werk, das keinem der selbst gesetzten Ansprüche gerecht wird.
Im einzelnen behandeln die Autoren folgende Themen:
Klaus Hurrelmann, Professor für Public Health and Education an der Hertie School of Governance in Berlin, gibt im ersten Beitrag einen Überblick zum Konzept des lebenslangen Lernens aller Lernenden, das sich aus der Entwicklung zum „Arbeitskraft-Unternehmer“, der seinen täglichen Arbeitsablauf selbständig plant und strukturiert, ergibt. Die Schüler sollen deshalb im Laufe der Schulzeit „Bildungsmanager in eigener Sache“ werden, die angeleitetes Lernen mit Selbstlernen verbinden. Entsprechend der Veränderungen im Arbeitsmarkt muss auf allen Stufen von Lernprozessen eine Verstärkung der Individualisierungstendenzen erfolgen. Deshalb benötigt das gesamte Bildungssystem in Deutschland eine Flexibilisierung, die Teilnehmerorientierung und der Adressatenbezug sind zu stärken, die Selbständigkeit jeder einzelnen Bildungseinrichtung ist herzustellen und die Möglichkeiten der neuen Medien im Lernprozess sind zu nutzen. Insbesondere die traditionelle Schulorganisation, die in Deutschland immer noch das Muster alter militärischer Organisation trägt, wird den heutigen und zukünftigen Anforderungen nicht gerecht.
Rainer Dollase, Psychologe mit Lehrtätigkeiten an verschiedenen Hochschulen, behandelt die Frage, was guten Schulunterricht auszeichnet. Er zeigt auf, dass es nicht die richtige Methode des Unterrichtens gibt, sondern dass es um die Umsetzung durch den einzelnen Lehrer in der jeweiligen Klasse geht. Es gibt nach seiner Sicht guten und schlechten Frontalunterricht, gutes und schlechtes Lernen. Eine besondere Rolle kommt bei ihm dem „classroom management“, d.h. der Fähigkeit zur Gruppenführung, zu. Auffallend ist, dass der Autor, wie in den meisten anderen Beiträgen, Lernen wie selbstverständlich als Wissensaufbau begrenzt und deshalb die Methoden ausschließlich an diesen Zielen misst. Hinzu kommt, dass er versucht, seine Thesen durch pädagogisch-psychologische Untersuchungen zu belegen. Neurobiologische Aspekte oder gar neue Medien spielen in seinem Beitrag, wie bei den meisten anderen Autoren, keine Rolle.
Die Erfahrungen mit Schullaboren werden von Bernd Ralle, Leiter des Zentrums für Lehrerbildung an Universität Dortmund, dargestellt. Diese ermöglichen Experimente zu aktuellen naturwissenschaftlichen Themen in einer authentischen Umgebung. Seine empirische Erhebung zeigt, dass die Einsatzmöglichkeiten in unserem reglementierten Schulsystem eng begrenzt sind. Wie die Idee des Schullabors in der Zukunft mit humanoiden Computern umgesetzt werden kann, wird leider nicht erörtert.
Marcus Hasselhorn, Professor für Psychologie am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung in Frankfurt/Main befasst sich mit der Frage, wie Kinder das Lesen, Schreiben und Rechnen lernen. Er stellt geeignete Förderinstrumente vor, um die Zahl der Grundschulkinder mit sprachlichen und mathematischen Defiziten zu reduzieren. Der angekündigte Aspekt der Neuen Medien spielt auch in diesem Abschnitt wieder keine Rolle. In diesem Beitrag wird jedoch zum ersten Mal in diesem Sammelband tatsächlich Bezug zu Erkenntnissen der Neurobiologie genommen.
Andreas Gold, Professor für Pädagogische Psychologie an der Goethe-Universität Frankfurt, geht der Frage nach Gleichheit oder Gerechtigkeit in Lernprozessen nach. So erfährt man, dass qualitiativ hochwertige Bildungs- und Betreuungsangebote in der frühen Kindheit sich günstig auf die spätere Lern- und Leistungsentwicklung auswirken. Welchen Bezug dieser Beitrag zum Titel des Herausgeberbandes hat, wird leider nicht deutlich.
Mit Bardo Herzig, Direktor des Paderborner Zentrums für Bildungsforschung und Lehrerbildung, und Alexander Martin, wissenschaftlicher Mitarbeiter, wird nun zum ersten Mal, nachdem man sich bereits durch die Hälfte des Buches gearbeitet hat, Lernen ( nicht die Lehre) mithilfe digitaler Medien in unterschiedlichen Lernkontexten aufgegriffen. Am Beispiel einer Simulationssoftware, Smartphones im Alltag, Sozialer Netzwerke in Peergroups sowie Internetforen und Communities wird aufgezeigt, dass Lernprozesse, insbesondere im außerschulischen Bereich, immer mit Mediennutzung verbunden sind. Um zu nachhaltigen Lernerfahrungen zu werden, wird dabei ein schulisches „Korrektiv“ benötigt, gleichzeitig sollten außerschulisch erworbene Medienkompetenzen in und für die Schule genutzt werden. Die Autoren skizzieren am Schluss die tiefgehenden Konsequenzen für die Lernenden und die Institution Schule, leider ohne praktisch umsetzbare Handlungsempfehlungen zu geben.
Heike Schaumburg, Akademische Rätin am Institut für Erziehungswissenschaften der Humboldt Universität Berlin, stellt die Ergebnisse einer umfassenden empirischen Studie über das Lernen mit Laptops vor. Sie kommt dabei zu dem Ergebnis, dass Laptops nicht automatisch den Lernerfolg beflügeln, sondern dass dieser in erster Linie von den Rahmenbedingungen und der fachlich-technischen und didaktischen Kompetenz der Lehrer abhängt. Leider verzichtet die Autorin auf konkrete Hinweise, wie die didaktisch-methodischen Konzeptionen und die Rahmenbedingungen zukünftig zu gestalten sind, so dass der Leser eher ratlos zurück gelassen wird.
Gerhard Roth, der Herausgeber, entwickelt die These, dass es auf den Lehrer ankommt. Diese benötigen fachliche Kompetenz, Feinfühligkeit und Glaubwürdigkeit. Dabei kann die Neurobiologie mithelfen, die dem Lernen zugrunde liegenden kognitiven und emotional-motivationalen Prozesse zu verdeutlichen und Lernkonzepte zu bewerten. Er schlägt eine Mischung aus Frontal- und Lehrgangsunterricht, Gruppen- und Projektunterricht sowie Frei- bzw. Einzelarbeit vor. Auch der Herausgeber dieses Bandes verzichtet darauf, auf den Aspekt Neuer Medien und damit des zukünftigen Lernens einzugehen.
Johannes Magenheim, Professor für Didaktik der Informatik an der Universität Paderborn, gibt einen detaillierten Überblick über die Instrumente und Möglichkeiten des Web 2.0 für den schulischen Einsatz. Dabei verzichtet er aber darauf, die Frage zu erörtern, welche Konsequenzen sich für die didaktisch-methodische Gestaltung der Lernrahmen und der Lernprozesse ergeben.
Dominik Becker, Wilfried Bos, Jasmin Schwanenberg und Rolf Strietholt, Universität und TU Dortmund, berichten über das empirische Forschungsprojekt „Ganz In – Mit Ganztag mehr Zukunft. Das neue Ganztagsgymnasium NRW“. Der Bezug zur Neurobiologie und zu Neuen Medien wird an keiner Stelle deutlich.
Hermann Maurer, emeritierter Professor am Institut für Informationssysteme und Computer Medien (IICM) an der TU Graz, reflektiert über die grundsätzlichen Schwierigkeiten bei der Erstellung von Prognosen, um dann neue Herausforderungen für die Schulen vorherzusagen. Es stellt sich insbesondere die Frage, was zukünftig in den Schulen gelernt werden soll und wann dies geschehen soll. Beeinträchtigt wird die Aussagefähigkeit seiner Thesen dadurch, dass er sich, obwohl er in die Zukunft schauen will, ausschließlich auf Quellen aus dem ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts stützt.