Unser Lernen verändert sich in dynamischer Form, auch wenn die meisten Bildungsinstitutionen nach wie vor in einer Schockstarre verharren. Umso mehr ändert sich unser Lernen im Alltagsleben, am Arbeitsplatz und vor allem im Netz. Ein wesentlicher Auslöser dieser Veränderungsprozesse ist die Digitalisierung, die wiederum die Möglichkeit bietet, Lernen unabhängig von Ort und Zeit selbstorganisiert zu gestalten. Eine besondere Bedeutung kommt der Kultur der Digitalität zu, aus der sich wiederum tiefgehende Konsequenzen für unsere Lernkultur ableiten.
Die Verbreitung immer komplexerer Technologien und Systeme erfasst das Handeln in allen Lebensbereichen unserer Gesellschaft und wirkt sich damit auf alle Menschen aus. Die Diskussion über diese Entwicklungen sind durch eine große Bandbreite der Sichtweisen geprägt, von überzeugten Kulturpessimisten zu euphorischen Kulturoptimisten. Felix Stalder, Professor für digitale Kultur an der Zürcher Hochschule der Künste und Forscher am World-Information Institut in Wien, untersucht in seinem Werk „Die Kultur der Digitalität“ ( 2016, Suhrkamp Berlin) , sowohl auf Basis historischer als auch aktueller Entwicklungen, wie unsere Kultur durch vielfältige gleichlaufende, kooperative und kontroverse Prozessen der Auflösung und des Miteinanders geprägt wird und welche Konsequenzen sich daraus ergeben.
Die digitale Transformation der letzten zwei Jahrzehnte hat fundamentale Veränderungen in unserer Gesellschaft bewirkt. Auf der einen Seite entstanden internationale, mächtige Organisationen wie z.B. Google, Facebook oder Amazon. Andererseits entwickelten sich gemeinnützige und selbstorganisierte Netzwerke, «Commons«, wie z.B. Wikipedia oder die Open Data Bewegung, die einen enormen Einfluss in unserer Gesellschaft haben. Die Kultur der Digitalität bestimmt immer mehr unsere Kommunikation im persönlichen, betrieblichen oder politischen Bereich.
Es haben sich Netzwerke als eine Form eines neuen Gesellschaftstyp herausgebildet, die nach und nach die traditionellen, hierarchischen Organisationsmodelle ablösen und erweitern. Wichtige gesellschaftliche Funktionen werden heute in Netzwerken organisiert, die eine eigene Dynamik besitzen. Durch die Entwicklung des Internet wird dieser Trend zur Netzwerkgesellschaft befördert. Dies hat tiefgreifende Konsequenzen für unser Denk- und Handlungsweisen, unsere Kultur und damit auch für unser Lernen
Nach einer Einleitung über die Zeit nach dem Ende der «Gutenberg-Galaxis« folgen die Kapitel Wege in die Digitalität,,Formen der Digitalität und Richtungen des Politischen in der Digitalität. Der Autor geht dabei von einem erweiterten Kulturbegriff aus, der Kultur nicht als symbolisches Beiwerk, sondern als ein handlungsanleitendes und gesellschaftformendes Phänomen sieht. Kultur umfasst damit alles, was sich in den Handlungen aller Subjekte konstitutiert. Diese Kultur bewirkt Praktiken, die sich in Artefakten, Institutionen und Lebenswelten zeigen. Am Beispiel von Choncita Wurst, die 2014 den Eurovision Song Contest gewann, beschreibt er sehr anschaulich den tiefgehenden Wandel unserer Kultur und die verstärkende Rolle des Netzes. Damit wird deutlich, dass das Netz zwar vieles in Frage stellt, aber auch eine kontinuierliche Komponente beinhaltet.
Im ersten Kapitel beschreibt und analysiert der Autor die Rahmenbedingungen für die Entstehung und Entwicklung der digitalen Kultur und deren Entwicklung. Hierbei geht er insbesondere auf wichtiger werdende Rolle der Wissensökonomie, den Aufbau von Netzwerkstrukturen und deren sozialen Konsequenzen ein.
Im zweiten Kapitel konzentriert sich der Autor auf die Formen der Digitalität, d.h. die Referentialität, den freien Umgang mit transparent markierten Quellen im Montage-Verfahren, die Gemeinschaftlichkeit, d.h. den offenen Austausch von Wissen und Fertigkeiten sowie die gemeinschaftliche Verteilung von Ressourcen und die Algorithmizität, d.h. computergestützte Automatismen.
Im dritten Kapitel beschreibt der Autor die politischen Richtungen der Digitalität. Er geht von der These aus, dass die Kultur der Digitalität das Ergebnis eines weitreichenden, unumkehrbaren gesellschaftlichen Wandels ist, der bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht und sich in den vergangenen fünfzig Jahren beschleunigt und erweitert hat. Die rasante Vervielfältigung kultureller Möglichkeiten mit stärker werdender Präsenz auch im Alltag bewirkt auch konservative oder reaktionäre Widerstände.
Die Kultur der Digitalität hat zur politischen Entwicklungsrichtung der „Postdemokratie“ sowie der „Commons“ geführt. Die Postdemokratie ist eine autoritäre Gesellschaft mit großer kultureller Vielfalt, verbunden mit geringem Einfluss der Menschen auf politische und ökonomische Entscheidungen und Strukturen, mit flächendeckender Überwachung (Big Data) sowie sozialen und ökonomischen Ungleichheiten. Als Alternative bewirken „Commons“ eine Erneuerung der Demokratie über Institutionen, die jenseits von Markt und Staat entstehen. Es bleibt offen, welche der beiden Entwicklungslinien sich durchsetzen wird.
Der Autor beschreibt und analysiert das differenzierte und komplexe Wechselspiel von technologischen, sozialen und gesellschaftlichen Trends in anspruchsvoller Weise. Die Stärke des Buches liegt in der Verknüpfung vieler, meist bekannten Entwicklungen, zu einem beeindruckenden Gesamtbild. Dabei verzichtet er auf direkte Handlungsempfehlungen. Es wird jedoch deutlich, dass er die Zukunft in partizipativen Ansätzen sieht. Dabei wird jedoch eine eher pessimistische Sicht spürbar, da diese ein ausgeprägtes Bewusstsein über die Konsequenzen aus der Digitalisierung sowie eine kritische Medienkompetenz erfordern. Bei diesen Anforderungen versagt unser Bildungssystem weitgehend.
Felix Stalder (2016): Kultur der Digitalität, edition suhrkamp 2679, Berlin