Der von mir heute kommentierte Artikel von Konrad Paul Liessmann zur Kompetenzorientierung in der Bildung hat auch John Erpenbeck und Volker Heyse zu einer Antwort bewegt. Ergänzend stelle ich diese Antwort zur Diskussion.
Der Artikel von Konrad Paul Liessmann „Das Verschwinden des Wissens“ in der NZZ vom 18.09.2014 berührt Grundfragen des (progressiven) Kompetenzdenkens und der Kompetenzentwicklung. Zudem ist Liessmann ein rhetorisch geschickter, viel gelesener und akzeptierter Autor.
Auf diesen Artikel möchten wir kurz eingehen:
Seit Roth, 1970, also seit mehr als 50 Jahren, arbeitet man mit den Grundkompetenz – Begriffen personale-, aktivitätsbezogene-, fachlich-methodische-, sozial-kommunikative Kompetenz (ganz im Gegensatz zur von Liessmann behaupteten „Beliebigkeit“ des Kompetenzbegriffes). Diese Unterscheidung hat sich, nicht nur aber auch, international deutlich in hunderten von Forschungsarbeiten, Messungen, Projekten usw. bewährt. Und die EU orientiert seit der Mitte der 1990er Jahre stets auf die untrennbar miteinander verbundenen vier Säulen aller Aus- und Weiterbildungsprozesse: Learning to know! Learning to do! Learning to be! Learning to live together!
Es gibt mittlerweile auch Verfahren diese Kompetenzen qualitativ zu erfassen und auch zu messen (im deutschsprachigen Raum zum Beispiel die Verfahren KODE® und KODE®X) und daraus Schlussfolgerungen in Bezug auf Veränderungen unter normalen und unter schwierigen Lebens- und Arbeitsbedingungen, sowie in Bezug auf die Dynamik von Handlungsideal, Handlungserwartung, Handlungsvollzug und Handlungsresultat zu treffen. Diese Fortschritte werden von der Liessmann-Polemik überhaupt nicht erreicht.
Die größten Industrieunternehmen Deutschlands, wie Airbus, Bosch, Daimler, Porsche, Audi, E.ON, Telekom, Siemens, Deutsche Bahn, Deloitte, Munich Re, Salzgitter, Bundesagentur für Arbeit und andere bauen in der Tat auf unternehmensspezifischen Kompetenzmodellen auf, wobei immer wieder neu bestimmt werden muss, welches (Fach-) Wissen und welche Kompetenzen wirklich wichtig sind und wie sie im Handeln manifest werden. Daraus aber auf ein Verschwinden des Wissens zu schließen, wie es der Autor Liessmann tut, ist komplett unsinnig. Können wir uns vorstellen, dass ein Unternehmen wie Daimler oder Bosch das Verschwinden von Wissen tolerieren würde? Oder eines der anderen Unternehmen? Denen geht es um etwas völlig anderes: Myriaden von Schülern und Studenten bekommen in Schulen und Universitäten Wissen eingetrichtert, das für sie unbrauchbar in dem Sinne ist, dass sie es nicht in irgendwelchen Zusammenhängen von Denkhandeln oder physischem Handeln benutzen können. Es ist nicht präsent, nicht abrufbar, nicht aktivierbar; es ist tot.
Liessmanns Polemik ist eine Verteidigung des toten Wissens. Der Wissensleichen. Der Wissensmumien, manche schön anzusehen, aber eben mausetot. Der „Nürnberger Trichter“. Es ist die Verteidigung des vorlesenden Professors, gerade in Fächern wie Philosophie, wo das Wissen nur in seltenen Fällen zu eigenem Denkhandeln führt (er verkennt übrigens, dass auch Denken ein Handeln ist, das mehr oder weniger kompetent sein kann!) – wo sich aber die eigene Daseinsberechtigung aus der Kenntnis und dem Vortrag von totem Wissen ergibt. Ein Stoff, ein Thema als Gegenstand eines Unterrichts, ohne ein „Wozu“ und „Wozu für mich“, führt zur Paukschule und Paukuniversität, auch wenn Liessmann anscheinend exakt das Gegenteil beabsichtigt. Uns interessieren nicht die mehr oder weniger glücklichen Konstrukte der Schweizer Pädagogen, aber die Behauptung, die klassischen Beurteilungs- und Bewertungssysteme des (auswendig gelernten) WISSENS seien auch nur einen Hauch besser als Kompetenzfeststellungen, also welches geistige KÖNNEN hat der Schüler aus dem Unterricht mitgenommen, halten wir für absurd.
Kern der neueren Kompetenzauffassungen ist, dass jedes Wissen „an sich“ emotional durchdrungen, emotional „imprägniert“ werden muss, um zu Wissen „für uns“, um damit zu Kompetenz zu werden. Treiber dieser emotionalen Imprägnierung können Begeisterung, Interesse, Neugier, Angst und vieles mehr sein – aber nirgends und nie werden Kompetenzen als „formale Fertigkeiten verstanden, die an beliebigen Inhalten erworben werden können.“ Dem Autor Liessmann ist offensichtlich nicht klar, dass er mit seinem Plädoyer für Neugier, Interesse, Offenheit gegenüber Sachen, Themen, Gegenständen genau in die Kerbe der modernen Kompetenzforschung schlägt, dass – totes – Wissen eben keine Kompetenz ist, dass dieses erst durch Einbettung in geistiges oder gegenständliches Handeln aus der Totenstarre erwacht.
An dem Autor sind anscheinend 20 Jahre intensiven Bemühens der EU um die Durchsetzung der Einheit von Wissensvermittlung und Kompetenzentwicklung vorbeigegangen. Die EU entwickelte zum Beispiel im Memorandum 2000 (Lebenslanges Lernen, in der Europäischen (Kompetenz-) Biografie in allen Sprachen der EU-Mitgliedsländern und in der neuerlichen Orientierung auf acht Europäische Qualifikationsstufen (EQF) die Auffassung von der unlösbaren Einheit von Wissen, Fertigkeiten und Kompetenzen beständig weiter. Letztere werden seit der Mitte der 1990er Jahre als Handlungsfähigkeiten bezeichnet, als Voraussetzung für die selbstorganisierte Bewältigung neuer, komplizierter Lebensanforderungen, als Voraussetzung zum individuellen Bestehen in Veränderungsprozessen. Und es werden in Verbindung mit Wissenserwerb solche unabdingbar zu fördernden Fähigkeiten genannt wie Offenheit für Veränderungen, Problemlösungsfähigkeit, Innovationsfähigkeit, Lernfähigkeit, Gestaltungsfähigkeit, Verantwortungsfähigkeit, Selbstmanagement, Kommunikationsfähigkeit und Fähigkeit, neuestes Fachwissen selbständig zu erwerben und zur Bewältigung neuer Anforderungssituationen einzusetzen.
In einem zentralen Punkt geben wir dem Autor vollständig recht: Eine Zerhackstückelung des Wissens , eine Vermischung von mikrologisch getrennten tausenden von Wissens-Kleinportionen, Fertigkeiten und einigen Handlungsfähigkeiten (Kompetenzen) unter dem allgemeinst gebrauchten „Oberbegriff Kompetenzen“ ist bedenklich , führt vom anders bestimmten Kompetenzbegriff weg und führt zu einer (verschwommenen) Begriffsbeliebigkeit. Diese Beliebigkeit, ja Übertreibung eines Begriffes sieht man heute auch bei dem Begriff „Skill“. Ursprünglich als „Fertigkeit“ (nicht Fähigkeit) übersetzt steht er heute im Internet für dutzende bis zu 120 untergeordnete Begriffe wie: Wissen, Kenntnisse, Kompetenzen, Qualifikationen… und sagt somit nichts konkretes mehr aus.
Fazit: Wer heute Wissen von Handlungsfähigkeiten im Bildungsprozess trennt, gehört nach unserer Auffassung einer vergangenen Spezies an. Wer hingegen von einer ganzheitlichen (schulischen) Ausbildung ausgeht, von der Einheit von Theorie und Praxis, von der Entwicklung von Wissen, Fertigkeiten und Handlungsfähigkeiten, vom persönlichen Charakter des Lehrens und Lernens ist auf dem Weg in die Zukunft. Das beweisen auch 36 Autorinnen und Autoren aus der Schweiz, aus Deutschland und Österreich mit Best Practice-Beispielen in dem spannenden Buch „Aufbruch in die Zukunft. Erfolgreiche Entwicklungen von Schlüsselkompetenzen in SCHULEN und Hochschulen“. (Waxmann Verlag, Münster 2014).
Prof. Dr. John Erpenbeck (Philosoph, Physiker. Berlin)
Prof. Dr. Volker Heyse (Psychologe. Regensburg. Vorstand der gemeinnützigen Stiftung Menschenbilder-Menschenbildung)