Die Wissensgesellschaft war das Zukunftsideal des 20., die Kompetenzgesellschaft ist das Zukunftsideal des 21. Jahrhunderts. Aber was sind Kompetenzen? Wie sind sie zu charakterisieren, zu ermitteln, zu messen, zu entwickeln? Das sind Schlüsselfragen zukünftiger Schul- und Hochschulbildung, zukunftsorientierter Berufsbildung und zukunftssichernden Personalmanagements.
Kompetenzen schlagen sich immer in Handlungen nieder. Sie sind keine Persönlichkeitseigenschaften. Noch immer werden in zahlreichen Unternehmen und Organisationen wunderbar objektive, reliable und valide Persönlichkeitstests eingesetzt und von versierten, testtheoretisch bestens geschulten und statistische Methoden perfekt beherrschenden Psychologen zu einem Maßstab von Personalauswahl und Personalentwicklung gemacht. Dagegen gibt es ernsthafte Einwände.[1]
Die sehr stabilen Persönlichkeitseigenschaften sind für Unternehmen viel weniger interessant als die zuweilen schnell veränderbaren, trainierbaren Handlungsfähigkeiten in Form von Kompetenzen.[2] Zudem ist der Schluss von Persönlichkeitseigenschaften auf Handlungsfähigkeiten fragwürdig. Selbst wenn beispielsweise die Persönlichkeitseigenschaft Extraversion zu 90 % mit einer hohen Akquisisitonsstärke gekoppelt wäre, kann sich ein Unternehmen gehörig und kostenaufwendig irren, wenn es zufällig an einen der 10 % gerät, der zwar vollkommen extrovertiert, aber bei Akquisitionsaufgaben ein gänzlicher Versager ist. Persönlichkeit ist eine Voraussetzung der Kompetenzentwicklung, aber nicht mehr.
Kompetenzmessungen schließen deshalb vom aktuellen Handeln auf vorhandene Handlungsfähigkeiten, nicht auf verborgene Persönlichkeitsmerkmale. Der beste Prädiktor für zukünftiges Handeln, und damit für Kompetenzen, ist vergangenes Handeln.
Die moderne qualitative Sozialforschung stellt heute ein großes Methodenarsenal bereit, um auch mit subjektiven Einschätzungen gewonnene Daten verlässlich interpretieren und perspektivisch nutzen zu können. Auch subjektive Einschätzungen können quantifiziert, auch objektive Bemessungen qualitativ ausgewertet werden. Viele Kompetenzmessverfahren bewegen sich zwischen dem quantitativen und dem qualitativen Pol. Sie thematisieren, dass menschliche Komplexität, Intentionalität und Selbstorganisation nicht mit klassischen, »mechanistischen« Verfahren allein gemessen werden können. Von diesen unterschiedlichen Beobachtungformen ausgehend kann man unterscheiden
- quantitative Messungen,B. Kompetenztests, eignungsdiagnostische und andere Testverfahren,
- qualitative Charakterisierungen,B. Kompetenzpässe.
Sowohl quantitative wie qualitative Messmethoden spielen für die moderne Kompetenzforschung eine eigene, unersetzliche Rolle. Es geht nicht um die Favorisierung eines Zugangs, sondern um eine volle Ausschöpfung des Netzwerks von Forschungsprogrammen, die der Kompetenzforschung zur Verfügung stehen. [2]
Weitere Ausprägungen der Kompetenzerfassung sind:
- komparative Beschreibungen,B. Kompetenzbiografien, Interviews, Selbstbeschreibungs- und Fremdbeschreibungen und Kombinationen daraus,
- simulative Abbildungen, z.B. Flugsimulatoren,
- observative Erfassungen, z.B. Arbeitsproben, Tätigkeitsanalysen oderAssessment-Center- (AC).
Sie alle können auch in computerunterstützten Szenarien wirksam werden.
Das Handbuch Kompetenzmessung, das John Erpenbeck und, in Nachfolge des verstorbenen Lutz von Rosenstiel, Sven Grote und ich, nunmehr in 3. Auflage herausgeben, hat sich zwischenzeitlich zu einem Standardwerk entwickelt. Ohne Lutz von Rosenstiel (1938 – 2013), den Philosophen, Schriftsteller und Psychologen, gäbe es dieses Handbuch nicht. Deshalb verstehen wir dieses Werk als Fortführung seines Denkens und Wirkens.
Dieses Standardwerk umfasst in weitreichender Themenbreite und Anwendungsvielfalt ein ausgedehntes Spektrum von Verfahren der Kompetenzerfassung und Kompetenzmessung. Damit können Mess-, Charakterisierungs- und Beschreibungsverfahren einbezogen werden, die von unterschiedliche Disziplinen wie Persönlichkeitspsychologie, Soziologie, Arbeits- und Handlungspsychologie, Qualifikationsforschung, Kommunikationspsychologie, Sprachwissenschaft, Erziehungswissenschaft oder Pädagogik zur Verfügung gestellt werden.
Die grundlegend überarbeitete Neuauflage besteht textlich zu mehr als der Hälfte aus neuen und ausgetauschten Verfahren. Leitgedanke war dabei, vor allem solche Verfahren und Verfahrenskombinationen aufzunehmen, die in der Lage sind, Kompetenzen als Fähigkeiten zu kreativem, selbstorganisiertem Handeln zu erfassen. Darüber hinaus haben wir besonderen Wert darauf gelegt, dass die Verfahren in der Praxis tatsächlich breit eingesetzt und angewendet werden. Während in den Vorauflagen die Erfassung und Messung von Einzelkompetenzen oder Kompetenzkombinationen im Vordergrund stand, hat die überwiegende Anzahl der Beiträge in der Neuauflage ein umfassendes, viele Aspekte des kreativen, selbstorganisierten Handelns abdeckendes Spektrum im Blick.
Im einzelnen weist das Werk folgende Änderungen bzw. Erweiterungen auf:
- Etwa 60 % der Beiträge sind neu, die wieder aufgenommenen wurden gründlich überarbeitet.
- Es wurden nur Verfahren aufgenommen, die Kompetenzen als die Fähigkeit zum selbstorganisierten Handeln, als Selbstorganisationsdispositionen, auffassen.
- Wir haben eine klare Grenze zu persönlichkeitserfassenden Verfahren gezogen.
- Die meisten der vorgestellten Verfahren decken ein breites Spektrum, viele Aspekte des selbstorganisierten Handelns abdeckendes Kompetenzspektrum, anstatt die Messung und Erfassung spezifischer, einzelner Kompetenzen, ab.
- Wir haben nur noch Verfahren aufgenommen, bei denen sich eine längerfristige, breite Nutzung nachweisen, zumindest extrapolieren läßt.
- Wir haben Verfahren neu aufgenommen, die den Wertaspekt betonen oder die sich auf die Kompetenzen von Kindern konzentrieren.
- Insgesamt hat der Anteil qualitativer Kompetenz-Messverfahren zugenommen.
- Symptomatisch ist die deutliche Zunahme eigener Kompetenzmessungs- und erfassungsverfahren durch große, bedeutende Beratungsutnernehmen, wie z.B. Deloitte, Kienbaum oder Sopra Steria.
- Auffallend ist die wachsende Zahl von Kompetenzmodellen mittlerer und großer Unternehmen. Nahezu jedes große deutsche Unternehmen besitzt heute ein eigenes Kompetenzmodell, wenn auch mit unterschiedlich ausgeprägten Messmethoden.
- In einem abschließenden Beitrag hat Silvia Annen eine große, instruktive Übersicht zu den in Europa eingesetzen Kompetenzmess- und -erfassungsverfahren erstellt.
Erpenbeck/Lutz von Rosenstiel/Sven Grote und Werner Sauter (3. Auflage 2017): Handbuch Kompetenzmessung. Erkennen, verstehen und bewerten von Kompetenzen in der betrieblichen, pädagogischen und psychologischen Praxis, Schäffer-Poeschel Stuttgart