Diese Woche war ich zu einem Coachingtermin in einem mittelständischen, weltweit agierenden Unternehmen eingeladen. Zum Schluss zeigte mir der Gesprächspartner stolz ein ca. 1 cm dickes Buch mit den neu aufgelegten „Werten“ der Unternehmung. Leider war es streng verboten, diese „Werte“ nach außen zu geben. Auf die Frage, wie sie denn zum „Leben“ gebracht werden, erfuhr ich, dass der Verwaltungsratsvorsitzende sie jedem Mitarbeiter persönlich mit einigen persönlichen Worten in die Hand gedrückt hätte.
Auch hier zeigte sich wieder ein weit verbreitetes Urteil, ja Vorurteil. „Werte“ sind hier ausschließlich in der oberen Etage der normativen Leitlinien, Visionen und Grundsätze angesiedelt. Sie erscheinen als etwas Hehres, Entrücktes, aber auch schnell Veränderbares. Also auch als etwas, worauf man in der „niedrigen“, alltäglichen Praxis nicht unbedingt zu achten braucht.
Eine solche Sicht ist aus zwei Gründen problematisch. Solche „Werte“ werden als als etwas Objektives interpretiert. Werte stellen aber immer eine Relation dar: Ein Mensch, eine Gruppe, ein Unternehmen oder eine Nation, bewerten ein Objekt, ein Ding, eine Eigenschaft, einen Sachverhalt oder eine Beziehung auf der Grundlage von früherem Wissen und früher angeeigneten Werten und anhand von sozial erarbeiteten Wertmaßstäben. Das Ergebnis dieser laufenden Wertungsprozesse sind Wertungsresultate – kurz: Werte. Werte weisen deshalb einen dynamischen Charakter auf. In den Entstehungsprozess der Werte sind alle Beteiligten involviert , Werte bilden den Kern ständiger Veränderungsprozesse im Unternehmen.
Es gibt kein kompetentes Handeln ohne Werte – Werte konstituieren kompetentes Handeln. Wenn wir verstehen, wie Werte angeeignet werden, verstehen wir, wie Kompetenzen angeeignet werden. Deshalb kommt diesem Aspekt in den betrieblichen Lernprozessen eine zentrale Rolle zu.
Jeder Mensch wertet in nahezu jedem Augenblick seines Handelns. Die Wertungsresultate können sehr vielschichtig sein. Beispiele dafür sind Empfindungen, Gefühle, Wünsche, Vermutungen, Zweifel, Befürchtungen, Hoffnungen, Bedürfnisse, Interessen, Einstellungen, Meinungen, Haltungen, Ansichten, Überzeugungen, Vorurteile oder Ablehnungen. Erst Werte ermöglichen ein Handeln unter Unsicherheit. Sie “überbrücken” oder ersetzen fehlende Kenntnisse, schließen die Lücke zwischen Wissen und Handeln. Damit sind sie die zentralen Ordnungsparameter für unser individuelles und soziales Handeln. Diese Rolle können Werte aber nur erfüllen, wenn sie nicht nur wohlformuliert in teuren Hochglanzbroschüren stehen, sondern in uns selbst interiorisiert sind. Werte sind damit das Ergebnis laufender Lernprozesse in der Praxis, bei der Lösung realer, herausfordernder Problemstellungen.
Ihr
Werner Sauter