Die Begriffe „Selbstgesteuert“ und „selbstorganisiert“ werden häufig fast synonym nebeneinander gesetzt. Auch im alltäglichen Sprachgebrauch überlagern sie sich vielfältig. Doch beinhalten beide ganz unterschiedliche Sichtweisen. Verwirrend ist, dass in der Literatur diese Begriffe teilweise völlig gegensätzlich genutzt werden. So erfolgen für Graf, Gramß & Edelkraut in ihrem neuen Werk Agiles Lernen selbstorganisierte Lernprozesse im Rahmen von vorgegebenen Lernzielen, während wir in unseren Publikation dieses formelle Lernern, z. B. in Blended Learning Arrangements, als selbstgesteuert bezeichnen.
Den Vorstellungen von fremdgesteuertem, selbstgesteuertem, fremdorganisiertem und selbstorganisiertem Lernen liegen systemtheoretische Vorstellungen zugrunde (vgl. Erpenbeck 2017). Das Steuerungsparadigma entstammt der klassischen Kybernetik, das Selbstorganisationsparadigma der Selbstorganisationstheorie (Synergetik-, Autopoiesetheorie), der sogenannten Kybernetik II. Diese betrachtet Systeme, deren Prozesse darauf gerichtet sind, das System selbst ständig neu zu produzieren und abhängig vom Umweltzustand zu reorganisieren. Dass wir fähig sind, selbstorganisiert und kreativ – also kompetent – zu handeln (und nicht nur: uns zu verhalten), dass wir in objektiv offenen materiellen und ideellen Problemsituationen immer neue, überraschende Lösungswege finden, resultiert aus der Tatsache, dass auch unser Gehirn ein selbstorganisierendes System darstellt, das durch eine in der Evolution erwachsene einzigartige Strukturierung immer neue kognitive Herausforderungen bewältigt. Äußere Selbstorganisation wird durch innere Selbstorganisation gemeistert.
Steuerung liegt vor, wenn ein System – ein technisches Gerät, ein Individuum, eine Gruppe oder ein Unternehmen – auf ein vorab festgelegtes Ziel hin dirigiert wird. Das Ziel ist also von vornherein vorgegeben.
Beim (völlig) fremdgesteuerten Lernen bestimmt der Lehrer oder Trainer die Lernziele, Operationen/Strategien, Kontrollprozesse und deren Offenheit.
Selbstgesteuert ist Lernen folglich dann, wenn Lernziele, Operationen/Strategien, Kontrollprozesse und ihre Offenheit teilweise oder vollständig im Lernarrangement vorgegeben sind, z. B. durch ein Curriculum oder ein interaktives E-Learning-Programm.
Der Lerner orientiert sich also den vorgegebenen Lernzielen, kann aber seinen Lernprozess, z. B. seine Lernplanung, seine Mediennutzung, seine Lerngeschwindigkeit, die Kooperation mit Lernpartnern u. ä. selbst steuern.
Der Begriff der Organisation bezieht sich auf ein System, dem eine Vielzahl von im Vornherein nicht festliegenden, nicht einmal erahnbaren Handlungsmöglichkeiten gegenübersteht und dessen Zukunft offen ist. Folglich können Ziele, Operationen, Strategien und Kontrollprozesse vorab nicht festgelegt werden.
Selbstorganisiert ist Lernen also dann, wenn Lernziele, Operationen, Strategien, Kontrollprozesse und ihre Offenheit vom Lerner selbst organisiert werden.
Lediglich der Rahmen des Lernens wird, z.B. über strategische Richtziele oder eine Vereinbarung mit der jeweiligen Führungskraft vorgegeben.
Beim (völlig) fremdorganisierten Lernen werden vom „Lehrer“ komplexe, wechselnde, mit bisherigen Operationen/Strategien und Kontrollprozessen nicht zu bewältigende Lern- und Arbeitssituationen so vorgegeben, dass sie im lernenden System Selbstorganisationsprozesse in Gang setzen und erwünschte fachliche, methodische, soziale und personale Dispositionen zur Folge haben. Dies ist z. B. der Fall, wenn die Lerner nach Vorgabe des Trainers Fallstudien oder Planspiele selbständig bearbeiten.
Gefragt sind Mitarbeiter, die sich in neuen, unerwarteten, Selbstorganisation und Kreativität fordernden Situationen bewähren, die also kompetent sind. Kompetenz wird zum wichtigsten Lernziel. Es ist also – theoretisch und vom praktischen Resultat her – ein enormer Unterschied, ob ein Lerner Lernziele, Operationen/Strategien, Kontrollprozesse und deren Offenheit von außen vorgesetzt bekommt, um fremd- oder selbstgesteuert irgendwelche formellen Abschlüsse zu erreichen, oder ob er sich ihnen – selbstorganisiert – aussetzt, um die eigenen Kompetenzen weiterzuentwickeln.