Die Werte- und Kompetenzforschung zeigt, dass der ausgelöste emotionale Spannungszustand, die „emotionale Labilisierung“, die entscheidende Voraussetzung jeder Verinnerlichung (Interiorisation) von Werten und damit dem Aufbau von Kompetenzen ist: Je größer das emotionale Gewicht, desto tiefer werden die zur Auflösung der Dissonanz führenden Werte später im „Grund der Seele“ verankert. Diese bestimmen wiederum die Handlungen in vergleichbar herausfordernden Situationen. Deshalb ist Werte- und Kompetenzentwicklung in Seminaren, Informationsveranstaltungen oder über Hochglanz-Broschüren nicht möglich.
Wertentwicklung auf individueller Ebene erfolgt selbstorganisiert im Prozess der
Kompetenzentwicklung.
Deshalb kommt den Führungskräften als Entwicklungspartner ihrer Mitarbeiter – Mentor – eine besondere Rolle zu. Sie schaffen die notwendigen Rahmenbedingungen und vereinbaren in Abstimmung mit ihren Mitarbeitern verbindliche Ziele für Praxis- oder Projektaufträge, die eine selbstorganisierte Werte- und Kompetenzentwicklung ermöglichen. Beim Mentoring gibt die Führungskraft als Prozessbegleiter (Mentor) weiterhin Erfahrungen und Eindrücke an ihre Mitarbeiter mit dem Ziel weiter, sie in ihrer persönlichen oder beruflichen Werte- und Kompetenzentwicklung innerhalb oder außerhalb des Unternehmens zu fördern.
Das Ziel des Mentoring ist es, den Entwicklungsprozess der Mitarbeiter mit Hilfe des Netzwerkes ihrer Führungskräfte zu intensivieren und ihrer Entwicklungsprozesse beratend zu begleiten. In diesen Mentoring-Prozessen liegt der Effekt immer mehr auf dem Transfer von implizitem Wissen und Werten des Mentors, der dafür einen entsprechenden Erfahrungshintergrund mitbringen sollte. Diese Erfahrungen und Werte sind eine wertvolle Ergänzung zu dem expliziten Wissen, das beim Mentoring genutzt werden kann.
Zusätzlich zu den genannten Vorteilen fördert ein Mentoring die Vernetzung der Mitarbeiter in der Organisation, insbesondere mit Entscheidern. Umgekehrt erhalten die Mentoren ein eindeutiges Feedback von der Basis und lernen selbst einen anderen Blickwinkel auf die Organisation kennen.
Die Mitarbeiter können ihre Werte- und Kompetenzentwicklung auf dieser Basis auf drei Stufen selbstorganisiert ermöglichen:
Werte- und Kompetenzentwicklung auf der Praxisstufe
Bei der Praxisstufe handelt es sich immer um ein Handlungslernen im Arbeitsprozess oder auch im sozialen Umfeld, etwa bei der Lösung von Konfliktsituationen. Für die Werte- und Kompetenzentwicklung auf der Praxisstufe sind vor allem folgende Lernformen typisch:
- Erfahrungslernen:Werte werden stets erfahren, nicht „bloß gelernt“. Erfahrung bezeichnet dabei Wissen, das durch Menschen in ihrem eigenen materiellen oder ideellen Handeln selbst gewonnen wurde und unmittelbar auf einzelne emotional-motivational bewertete Erlebnisse dieser Menschen zurückgeht.
- Erlebnislernen:Gerade Erlebnisse liefern die Momente der emotionalen „Labilisierungen“, d. h. im emotionalen Sinne Erleben und Bewältigen von Zweifeln, Widersprüchlichkeiten oder Verwirrung (Dissonanzen), unter denen nicht nur Sachwissen gelernt, sondern Emotionen angeregt, Motivationen ausgeprägt und Werthaltungen entwickelt werden.
- Expertiselernen:Das Resultat dieser Lernformen. Expertise ist das, was Könner zu Könnern macht. Einziger Indikator für ihre Könnerschaft ist ihre Leistung beim Ausüben einer Tätigkeit.
Werte- und Kompetenzentwicklung auf der Coachingstufe
Die Coachingstufe ergänzt die Praxisstufe der Werte- und Kompetenzentwicklung.
Coaching durch Kollegen oder Experten hat sich in agilen Werte- und Kompetenz-Entwicklungsprozessen als wirksame Begleitung erwiesen. Coaches fungieren im Prozess der individuellen Werte- und Kompetenzentwicklung als Lernbegleiter. Dieser schafft bei Bedarf die Bedingungen für selbstorganisiertes Lernen und ermöglicht damit Prozesse der Verinnerlichung von Werten, z. B. im Rahmen von Erfahrungslernen. Da es jedoch nicht möglich ist, jedem Mitarbeiter und jeder Führungskraft einen Coach zur Seite zu stellen, kommt der Lernbegleitung durch Lernpartner im Rahmen des Co-Coachings sowie der Kollegialen Beratung und den Communities of Practice eine zentrale Bedeutung zu.
Coaching stärkt in beruflichen Entwicklungsprozessen die Fähigkeit der Mitarbeiter zur Selbstorganisation im Sinne einer „Hilfe zur Selbsthilfe“. Es handelt sich überwiegend um arbeitsbezogene Selbstreflexion. Sie kann von Person zu Person, aber auch im Netz erfolgen.
In einer Reihe von Untersuchungen wurde nachgewiesen, dass Belastungen und Stresssituationen besser bewältigt werden können, wenn die Menschen in ein Netzwerk aus gut funktionierenden sozialen Beziehungen integriert sind, emotionalen Austausch erfahren und sich potentieller Hilfeleistung sicher sind. Deshalb sind für die Werteentwicklung der Mitarbeiter Lernpartnerschaften (Co-Coaching)von besonderer Bedeutung. Diese bieten eine sozial-emotionale Stabilisierung, aber auch konkrete Hilfe bei der kollaborativen Lösung von Problemstellungen.
Die Begleitung von Werte- und Kompetenzentwicklungsprozessen durch Lernpartner und -begleiter erfolgt in mehreren Schritten, die teilweise oder ganz im Netz erfolgen können:
Gezielte Werteentwicklung von Persönlichkeiten im Arbeitsprozess
- Werte- und Kompetenzentwicklungsziele mit Hilfe einer Werte- und Kompetenzmessung klären und den individuellen Entwicklungsbedarf im Rahmen eines Auswertungsgespräches mit dem Coach festlegen
- Mögliche Wege der Werte- und Kompetenzentwicklung im Rahmen der Transfer- und Praxisaufgaben mit dem Coach oder Lernpartner bewerten und auswählen,
- Herausforderungen im Arbeitsprozess oder in Praxisprojekten, in denen die angestrebten Werte und Kompetenzen aufgebaut werden können, mit der Führungskraft (Mentor) als Transfer- oder Praxisaufgaben identifizieren und vereinbaren
- In einem Kickoff mit einem Lernbegleiter die selbstorganisierte Entwicklungsphase planen. Der Mitarbeiter lernt den digitalen Ermöglichungsrahmen mit den Planungstools, den Instrumenten zur Kommunikation und Kollaboration, die inhaltlichen Angebote sowie Feedbacktools kennen, vereinbart Lernpartnerschaften und trifft verbindliche Vereinbarungen.
- Die personalisierte Werte- und Kompetenzentwicklung für die Transfer- und Praxisaufgaben selbstorganisiert, evtl. in Abstimmung mit Lernpartnern,mit Sprints und wöchentlichen Reviews (Joure-fixe mit den Lernpartnern) planen und umsetzen.
- Den Werte- und Kompetenzentwicklungs-Prozess durch den Lernpartner (Co-Coaching) sowie den Lernbegleiter (Coach) beobachten, reflektieren und unterstützen.
- Der Werte- und Kompetenzentwicklungsprozess und seine Ergebnisse werden durch den Mitarbeiter dokumentiert, gemachte Erfahrungen im Rahmen des werte- und kompetenzorientierten Wissensmangements weitergegeben.
Werte- und Kompetenzentwicklung auf der Trainingsstufe
Werte- und Kompetenztraining unterscheidet sich grundlegend von den Trainingsformen im Rahmen formeller Lernprozesse. Trainings mit Fallstudien oder Rollenspiele können niemals die emotionalen Herausforderungen, der z. B. ein Kundenberater in schwierigen Beratungsgesprächen ausgesetzt ist, widerspiegeln.
Voraussetzung der Werte- und Kompetenzentwicklung auf der Trainingsstufe ist, dass die Mitarbeiter reale Herausforderungen, z.B. „echte“ Beratungen in Praxisprojekten oder in Praxisanwendungen, zu bewältigen haben und dabei von einem Lernpartner oder dem Lernbegleiter beobachtet und bewertet werden.
Digitalgestützte Werteentwicklung
Sich im disruptiven Wettbewerb in Zeiten der Digitalisierung zurecht zu finden heißt oft Navigieren im Nebel. Und dieses Navigieren bedarf tief verankerter, handlungsleitender Werte, die auf Erfahrungen und Überzeugungen beruhen. Um damit umzugehen, muss die betriebliche Lernwelt ein Spiegelbild der Arbeitswelt werden. Deshalb ist ein ausgeprägtes, digital gestütztes Wertemanagement erforderlich, das ein vernünftiges, die disruptiven Umbrüche gestaltbar machendes Performanzmanagementeinschließt.
Die Digitalisierung hat die Kommunikation der Mitarbeiter verändert. Immer mehr organisieren einen Teil ihres Lebens offline, einen anderen online. Es entstehen neue soziale Strukturen in Communities, die auf innovativen Kommunikationsformen aufbauen. In Communities of Practice gibt es keine formalisierten Pfade. Die Individuen wählen selbst die Ziele, Inhalte, Strategien, Methoden und Kontrollmechanismen ihrer Werteaneignung. Der Erfolg hängt davon ab, dass die Mitarbeiter herausfordernde Problemstellungen in der Praxis selbstorganisiert lösen und in diesem Prozess Werte interiorisieren.
Werte- und Kompetenzentwicklung im Netz findet nicht ausschließlich in den Köpfen der Mitarbeiter statt, sondern basiert auf gemeinsamen Aktivitäten. Es bezieht den ganzen Menschen und seine Umwelt mit ein. Werte- und Kompetenzentwicklung ist damit ein Prozess des kulturellen Austausches, durch den kognitive Aktivitäten strukturiert und geformt werden. Dies bedingt aber, dass die sich Entwickelnden gemeinsam ihre Entwicklungsziele formulieren und ihre Werte- und Kompetenzentwicklungsprozesse planen, Erfahrungen austauschen und gemeinsam Entscheidungsprozesse erleben.
Ausblick
Eine gezielte Werteentwicklung von Mitarbeitern ist möglich, jedoch nur selbstorganisiert im Prozess der Arbeit. Werteentwicklung darf nicht mit traditioneller Weiterbildung verwechselt werden. Werte lassen sich nicht berechnen, ausarbeiten und festlegen. Sie bilden sich im individuellen und organisationalen Handeln selbstorganisiert aus. Sie sind nicht wahr oder falsch, sondern akzeptiert oder nicht akzeptiert.
Sind die einmal Mitarbeiter gewohnt, den Ermöglichungsrahmen für ihre eigenen Entwicklungsprozesse erfolgreich zu nutzen, kann davon ausgegangen werden, dass sie nach und nach dazu übergehen, diese Möglichkeiten auch außerhalb geplanter Maßnahmen zu nutzen – Arbeiten und Lernen wachsen damit zusammen.
Social Workplace Learning ist laufende, selbstorganisierte Werte- und Kompetenzentwicklung im Prozess der Arbeit und im Netz, wenn herausfordernde Problemstellungen zu bearbeiten sind.
Die Mitarbeiter organisieren nunmehr ihre Werte- und Kompetenzentwicklung als personalisierte Learning Journey selbst und in eigener Verantwortung mit Unterstützung ihrer Führungskraft, ihres Prozessbegleiters und ihres Netzwerkes (Community of Practice).
Literatur
Erpenbeck; J. ; Sauter, W. (2019 in Arbeit): Wertungen. Werte. Gezielte Werteentwicklung von Persönlichkeiten, Heidelberg, Berlin
Erpenbeck, J.; Sauter, W. (2018): Wertungen. Werte. Das Fieldbook für ein erfolgreiches Wertemanagement, Heidelberg, Berlin |
Erpenbeck, J., unter Mitarbeit von Sauter, W., (2018): Wertungen. Werte. Das Buch der Grundlagen für Bildung und Organisationsentwicklung, Heidelberg, Berlin
Sauter, W.; Sauter, R.; Wolfig, R. (2018): Agile Werte- und Kompetenzentwicklung. Wege in eine neue Arbeitswelt. Heidelberg, Berlin |