Mitten in das Corporate Learning Camp platzte die Nachricht, dass Bob Dylan den Literatur-Nobelpreis erhalten hat. Martin Lindner twitterte prompt: „#Dylan! Wir sind Nobelpreisträger! Das hätte ich nie, nie geglaubt.“ Damit lieferte Bob Dylan das Motto für dieses Barcamp.
Auch während der zwei Tage, die von Karlheinz Pape wieder souverän moderiert wurden, stellte sich bei mir das Gefühl ein, dass sich im Bildungsbereich, wenn auch langsam und schon gar nicht überall, etwas verändert. Allein, dass bei 300 Anmeldungen ein Anmeldestopp erforderlich war, zeigt, wie stark das Interesse an Corporate Learning Themen, aber auch an dem Format Bar Camp, gewachsen ist. Ich kenne keine Veranstaltung in diesem Kontext, das einen derart intensiven und spannenden Austausch von Erfahrungen, Ideen und Meinungen ermöglicht. Nach zwei Tagen intensiver Gespräche, aktiver Mitwirkung als Teilgeber (im wahren Sinne des Wortes) und einfach auch als Zuhörer ging ich mit sehr vielen Anregungen und Ideen nach Hause.
Ich empfand die 300 Teilgeber nicht als zu viel. Die Vielfalt der Sessions wird dadurch größer, jeder findet, was ihn interessiert. Dass ich manche bekannten Gesichter nur von der Ferne sah, muss man wohl in Kauf nehmen. Bei einer kleineren Teilnehmerzahl würde ich dafür viele gar nicht sehen.
Ich selbst habe mich in mehrere Sessions und Diskussionen mit eingebracht. Zu Beginn habe ich einen Gedankenaustausch zum Thema „Kompetenzentwicklung im Netz“ initiiert.
In meiner Anmoderation ging ich von folgenden Veränderungen und deren Auswirkungen für das Corporate Learning aus.
- Digitalisierung: Zukünftige, selbständig agierende Computer, die ähnlich wie Menschen, Problemstellungen erfassen, analysieren, bewerten und unter Nutzung der Möglichkeiten des Netzes lösen können…
- Industrie 4.0: In 5 Jahren wird der Anteil der Wertschöpfung, der auf digitalen Geschäftsmodellen beruht, von heute 20 % auf 80 % wachsen. Die Strukturen und Prozesse in den meisten Unternehmen wandeln sich fundamental.
- Arbeit 4.0: Die Arbeit verändert sich aufgrund der Digitalisierung radikal. In den kommenden zwei Jahrzehnten wird die Hälfte der heutigen Arbeitsplätze verschwinden. Gleichzeitig werden neue Berufe entstehen, die wir noch nicht kennen.
Dies erfordert zwingend Bildung 4.0:
- Die Mitarbeiter benötigen Kompetenzen: Die Fähigkeit, heute (meist noch unbekannte) Herausforderungen im Arbeitsprozess selbstorganisiert und kreativ lösen zu können
- Die Mitarbeiter benötigen digitale Kompetenzen: Die Fähigkeit, Herausforderungen in der Arbeits- und Lebenswelt mit Hilfe digitaler Systeme selbstorganisiert und kreativ lösen zu können.
- Wissensorientiertes Lernen auf Vorrat („Bulimielernen“) ist sinnlos.
- Lernen in Seminaren mit gerade mal 7 % Umsetzungsquote in die Praxis ist sinnlos.
- Kompetenzentwicklung kann nur selbstorganisiert in realenHerausforderungen erfolgen; Kompetenzen müssen reifen…
- Selbstorganisiertes Lernen erfordert eine „Ermöglichungsdidaktik“, die der Singularität der Menschen gerecht wird
- Kompetenzentwicklung erfordert einen mobil nutzbare „Ermöglichungsrahmen“, der ein Spiegelbild der (zukünftigen) Arbeitswelt ist
- Zunehmend wird das Lernen im Netz (in der Cloud) stattfinden, indem kollaborativ Problemlösungen entwickelt werden, Erfahrungswissen ausgetauscht und weiterentwickelt wird.
- Dies bedingt eine Arbeits- und Lernkultur, mit eigenverantwortlichem Lernen Führungskräfte als Entwicklungspartner (Mentor), Lernbegleitung, kollaborativem Arbeiten und Lernen, Austausch von Erfahrungswissen, Co-Coaching….
- Die heutige (zentralistisch orientierte) Personalentwicklung wandelt sich zu einem Kompetenzmanagement, das personalisierte Kompetenzentwicklung ermöglicht
- Learning Professionals benötigen grundlegend veränderte Kompetenzen
In einer Runde von etwa 80 Teilgebern, mit einer Vielzahl von Praktikern aus den Unternehmen, wie beispielsweise Andreas Eckelt von DB Training, aber auch Experten wie Christoph Meier vom SCIL oder Frank Edelkraut von Mentus, waren wir uns über diese Konsequenzen grundsätzlich einig. Es wurde deutlich, dass die isolierte Bearbeitung von Bildungsprojekten nicht ausreicht, um die notwendigen Veränderungen zu umzusetzen. Vielmehr ist ein umfassender Veränderungsprozess zu initiieren, der insbesondere eine Veränderung der Rolle der Führungskräfte zu Entwicklungspartnern ihrer Mitarbeiter, letztendlich eine neue Unternehmens- und Lernkultur zum Ziel hat.
Ein schönes Beispiel aus den insgesamt 80 Sessions war die Session „Digitale Transformation und Leistungsportfolio“ von Christoph Meier, in der wir die Konsequenzen aus diesen Entwicklungen für die Geschäftsmodelle der Bildungsanbieter diskutierten. Besonders positiv empfand ich, dass es gelungen ist, solche Konzepte konsequent aus Sicht der Praxis, aus den Anforderungen in der täglichen Arbeit zu beleuchten.
Bei Markus Herkersdorf und seinem Team von Tricat konnte ich Virtual Reality erleben. Die Möglichkeiten dieser Systeme wurden mit besonders deutlich, als meine Höhenangst getestet wurde. Je mehr diese Systeme durch realistische Darstellungen es schaffen, in den Lernprozessen tatsächlich auch die „emotionale Imprägnierung“ des Wissens zu ermöglichen, umso mehr werden sie in Zukunft ein wesentlicher Bestandteil der Lernsysteme werden. Erste Ansätze zur Integration künstlicher Intelligenz zeigen, dass sich diese Ansätze bereits auf diesem Wege befinden.
Viel Spaß gemacht hat die von Simon Dückert moderierte Diskussion mit Jochen Robes, Daniel Stoller-Schai und mir, die Youtube live übertragen wurde. Dabei haben wir versucht, nach einem kurzen Rückblick auf die Entwicklung des E-Learning die zukünftigen Veränderungen des Lernens, insbesondere aufgrund der Digitalisierung, zu beleuchten. Die Diskussion kann unter aufgerufen werden unter https://www.youtube.com/watch?v=XRkBwGkP8XM.
Danach ging es ohne Pause in eine Session, die Franz-Peter Staudt und ich angeboten haben: „Ermöglichungsrahmen für das Lernen im Arbeitsprozess“. Wir stellten darin die Anforderungen an eine Soziale Kompetenzentwicklungs-Plattform vor, die wir in einem Praxisprojekt entwickelt hatten. In diesem Ansatz bilden die Funktionalitäten, die ein typisches Learning Management System (LMS) umfasst, nur noch eine Teilmenge. Schließlich macht das formelle Lernen im 70:20:10-Modell auch nur 10 Prozent aus.
Dieser Ermöglichungsrahmen bildet die logische Konsequenz aus dem Ansatz der Ermöglichungsdidaktik, der zum Ziel hat, dass die Mitarbeiter ihre personalisierten Kompetenzentwicklungsprozesse selbstorganisiert gestalten können. Auf Basis folgender (stark) verkürzter Anforderungsliste haben wir die wesentlichen Aspekte diskutiert:
1 | Zentrale, digitale Anlaufstelle aller Mitarbeiter im Unternehmen |
2 | Personalisierung: : Nutzung des Ermöglichungsrahmens nach den individuellen Bedürfnissen in einem offenen Berechtigungssystem |
3 | Mobile Learning: unabhängig von Ort und Zeit |
4 | Micro Learning: Nutzung nach Bedarf „on-demand“ (Micro-Learning) |
5 | Berechtigungskonzept: Offener und geschützter Bereich mit unterschiedliche Rollen bzw. Berechtigungskonzepten |
6 | Usabilty: Intuitive Bedienung und geringe Nutzungsbarrieren, lernfreundliche Gestaltung |
7 | Aktualität: Jeder Änderung im System wird mit Namen und Änderungszeitpunkt protokolliert. Dynamischer Charakter. |
8 | Flexibilität: Neue Inhalte und technologische Elemente können jederzeit hinzugefügt werden (Baukasten-Prinzip). |
9 | Mehrsprachigkeit |
10 | Transparenz: Individuell anpassbare Suchfunktionen, Volltextrecherche … |
11 | Datensicherheit: Passwortgeschützte Bereiche, alle Änderungen werden protokolliert. |
12 | Geräteunabhängigkeit: Alle gängigen Betriebssysteme und Hardware |
13 | Nutzung über ein App |
Tools | |
14 | Offene und geschlossene Kommunikations- und Lernräume |
15 | Geschützte Arbeits- und Lernumgebung – Persönlicher Lernbereich |
16 | Tools zur individuellen Lernplanung |
17 | Tools zum kollaborativen Arbeiten und Lernen im Netz |
18 | Tools zum formellen Lernen im Netz (LMS) |
19 | Tools zur Dokumentation und zum kompetenzorientierten Wissensmanagement |
20 | Feedback-Instrumente |
Zum Schluss gestalteten Karlheinz Pape und ich eine Session zu dem (relativ) neuen Buch „Stoppt die Kompetenzkatastrophe!“ (Springer Verlag Heidelberg Berlin 2016), das John Erpenbeck und ich als Streitschrift veröffentlicht haben. Karlheinz interviewte mich zu wesentlichen Aspekten dieses Buches. Besonders wichtig waren dabei die Barrieren, die häufig verhindern, dass die Zeiten sich im Bildungsbereich rasch genug verändern:
- Die Wissensbarriere, der nahezu unterschütterliche Glaube, insbesondere von Entscheidern, dass man den Menschen nur Wissen „eintrichtern“ muss, um sie handlungsfähig zu machen,
- die Zensurenbarriere, die, häufig noch vorgeschriebene, Methode, den Lernerfolg mit Tests und Prüfungen zu ermitteln (Bulimielernen), anstatt zu prüfen, ob die Aufgaben der Mitarbeiter in der Praxis besser gelöst werden können,
- die Rollenbarriere, die Neigung vieler Bildungsleute, ihre liebgewonnen Rolle als Personalentwickler, als Trainingsplaner oder als Trainer bis zu ihrer Pensionierung zu sichern,
- die institutionelle Barriere, insbesondere die naive Fiktion, man könnte als zentrale Personalentwicklung die unzähligen individuellen Lernprozesse der Mitarbeiter zentral planen und steuern.
Der kommende Paradigmenwechsel stellt vieles in Frage, was die heutigen Bildungssysteme in Schule, Hochschule und in den Unternehmen prägt. Es gibt aber keine Alternative dazu, wenn Deutschland wettbewerbsfähig bleiben soll. Und es ist möglich, wenn ein politischer Wille vorhanden ist.
Vielen Dank an die Veranstalter, die dieses Treffen möglich gemacht haben!