Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat eine groß angelegte Studie zum Weiterbildungsverhalten in Deutschland 2016 (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2017 ). veröffentlicht. Das erklärte Ziel der Studie ist nach Frau Wanka, viele Impulse zu geben, um das Lebenslange Lernen in Deutschland weiter voranzutreiben. Wer mit der Erwartung an die Lektüre herangeht, darin etwas Hilfreiches für die eigene Bildungsarbeit zu erfahren, wird vermutlich enttäuscht sein.
So erfahren Sie eine Menge Grundsätzliches zum Weiterbildungsverhalten. Etwa 50 Prozent der 18- bis 64jährigen nehmen jährlich an mindestens einer Weiterbildungsmaßnahme teil. Zu Beginn des Jahrhunderts waren es lediglich 40 Prozent gewesen. Der Löwenanteil der besuchten Kurse entfällt mit über 80 Prozent auf die betriebliche und individuelle berufsbezogene Weiterbildung. Diese findet zu etwa 60 Prozent während der Arbeitszeit statt. Sie erhalten weiterhin eine Vielzahl von differenzierten Statistiken nach Herkunft (immer noch Ost-West), Erwerbsstatus, Bildungshintergrund, Gender, Migrationshintergrund oder Alter.
Für völlig inakzeptabel halte ich die Prämissen, die den Befragungen zugrunde liegen.
Für die Erfassung der Weiterbildungsbeteiligungsind die Vorgaben des AES-Manuals entscheidend (European Commission/Eurostat 2017). Für Weiterbildungsaktivitäten wird dort ein Spektrum definiert, das folgende vier Formen umfasst und mithilfe von vier Fragen erfasst wird:
- Kurse oder Lehrgänge in der Arbeits- oder Freizeit,
- kurzzeitige Bildungs- oder Weiterbildungsveranstaltungen, also Vorträge, Schulungen, Seminare oder Workshops,
- Schulungen am Arbeitsplatz (z. B. geplante Unterweisungen oder Trainings durch Vorgesetzte, Kollegen, durch Trainer oder Teletutoren),
- Privatunterricht in der Freizeit (z. B. Fahrstunden für den Führerschein, Trainerstunden im Sport, Musikunterricht, Nachhilfestunden).
Zu den sogenannten „regulären Bildungsaktivitäten“ zählen alle, die (theoretisch) mit einem Abschluss enden, der im jeweiligen nationalen Qualifikationsrahmen, für Deutschland also im DQR (Deutscher Qualifikationsrahmen), verortet bzw. anerkannt sind und die eine Mindestdauer von sechs Monaten umfassen. Warum diese formelle Bildungsmaßnahmen dabei als „regulär“ bezeichnet werden, bleibt rätselhaft, wenn man sich z. B. das 70:20:10-Modell vor Augen hält. Auch die Begrenzung der Studie bis zum 64. Lebensjahr unter der Überschrift „Lebenslanges Lernen“ muss man nicht verstehen. Es ist schon erstaunlich, dass ausschließlich tradierte Lernformen abgefragt werden. E-Learning, Blended Learning, Social Learning oder gar Workplace Learning kommen offensichtlich in der Denkwelt der Ministerialbeamten nicht vor.
Geradezu grotesk wird die Studie, wenn sie sich auf das Gebiet des informellen Lernens wagt. Als Formen des informellen Lernens werden abgefragt:
- Lernen von Familienmitgliedern, Freunden oder Kollegen
- Lesen von Büchern oder Fachzeitschriften
- Nutzung von Lehrangeboten am Computer oder im Internet
- Wissenssendungen im Fernsehen, Radio oder auf Video, CD, DVD
- Führungen in Museen oder historischen Orten, Naturdenkmälern oder Industrieanlagen
- Besuche von Büchereien oder offenen Lernzentren
Schwer nach zu vollziehen ist, dass eine Lernaktivität nur dann als informelle Lernaktivität gezählt wird, wenn „das Lernen intentional, also nicht zufällig“ (S. 8), erfolgte. Auch wird digital gestützte Bildung auf die Nutzung von Lernmaterial begrenzt, die online zur Verfügung gestellt werden. Die Nutzung digitaler Systeme um vor allem zu Recherchieren, um mit Lernpartnern zu kommunizieren oder kollaborativ im Netz Lösungen zu entwickeln, gibt es in der Welt des Bildungsministeriums, die offensichtlich vor dreißig Jahren stehen geblieben ist, nicht.
Diese Untersuchung wäre für die betriebliche Bildungsarbeit nur dann sinnvoll, wenn sie von einer breiteren Definition informellen Lernens ausginge ( vgl. z. B. Sauter & Sauter 2016):
Informelles Lernen ist das spontane, vielfach ungeplante Lernen im Alltag, am Arbeitsplatz oder in der Freizeit. Es kann zielgerichtet sein, ist aber in den meisten Fällen nicht zielgerichtet (intentional) und eher beiläufig (inzidentiell). Es findet sowohl reaktiv, wenn ein Problem auftritt, als auch proaktiv, d.h. vorausschauend, statt und erfolgt auch in Netzwerken.
In der betrieblichen Bildung findet nach den vorliegenden Untersuchungen bis zu 80 % des Lernens informell statt ( vgl. u. a. Livingston 1999). Dabei gewinnt Social Learning zunehmend an Bedeutung.
Social Learning (E-Learning 2.0) ist kompetenzorientiertes Lernen mit Social Software (Social Media), das informelles, selbstorganisiertes und vernetztes Lernen umfasst.
Social Learning im Unternehmen ermöglicht damit netzbasiertes Social Workplace Learning durch die Verknüpfung von kollaborativem Arbeiten und Lernen, fördert die Netzwerkbildung und unterstützt den individuellen Kompetenzaufbau der Mitarbeiter. Damit sind informelles und soziales Lernen eng miteinander verknüpft und bedingen sich immer mehr gegenseitig.
All dies kommt in der Studie nicht vor. Lernen durch eigenes Bemühen, indem beispielsweise das Internet oder Intranet für Problemlösungen genutzt wird, oder das kollaborative Arbeiten und Lernen, z.B. in Communities of Practice, spielen für das Bundesbildungsministerium offensichtlich keine Rolle. Deshalb verwundert es auch nicht, dass es zu der im Ergebnis völlig unsinnigen Aussage kommt, die man nur versteht, wenn man sich die absolut unrealistischen Definitionen in der Studie vor Augen hält:
„Im Jahr 2016 lernten 43 % der 18- bis 64-Jährigen auf intentionalem, informellem Wege.“
Mich würde nun schon interessieren, wie es 57 Prozent der Mitarbeiter in den Unternehmen schaffen, nicht informell zu lernen. Wenn man davon ausgeht, dass die Menschen bei jeder Lösung, die sie entwickeln, informell lernen – ob bewusst oder unbewusst – dann lernen doch wohl alle Menschen laufend informell.
Diese Studie wird das Lebenslange Lernen in Deutschland sicher nicht vorantreiben, sondern eher das Beharrungsvermögen in der Weiterbildung festigen. Es ist einfach ärgerlich, wenn solche realitätsfernen Studien, finanziert durch Steuergelder, verbreitet werden.