Non vitae, sed scholae discimus („Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir“)
Seneca (1 – 65 n. Chr.), römischer Philosoph und Literat
Gilt dieser Satz, der häufig verdreht verwendet wird, im Zeitalter des Internet noch mehr? Im Internet finden wir heute das gesamte Wissen, das wir benötigen. Inwieweit muss dann noch Wissen vermittelt werden?
Lehrer, Eltern und Betriebe klagen, dass die Schüler immer weniger wissen. Ich kenne zwar keine Untersuchung, die das objektiv belegt. Trotzdem erhält man bei dieser Behauptung meist sehr viel Zustimmung. Gleichzeitig wird das immer höhere Lernpensum der Schüler und Studenten, insbesondere aufgrund von Reformen wie „G8“ oder „Bologna“ beklagt. Dagegen steht wiederum die These, die in der neusten Ausgabe der „Zeit“ postuliert wurde, dass die Schüler viel mehr wissen könnten, wenn sie weniger lernen müssten.
Bevor die Verwirrung zu groß wird, will ich mir nochmals ins Gedächtnis rufen, was eigentlich Wissen ist. Der Begriff „Wissen“ wird von Wissenschaftlern, Pädagogen, Führungskräften oder Politikern und Philosophen sehr unterschiedlich definiert. Der Wissensbegriff, den die Europäische Kommission benutzt, umfasst folgende Elemente: Wissen ist die Kombination von Daten und Information, unter Einbeziehung von Expertenmeinungen, Fähigkeiten und Erfahrung, mit dem Ergebnis einer verbesserten Entscheidungsfindung. Dieses Wissen im engeren Sinn ist also das Resultat einer bewussten Verarbeitung der Informationen. Es genügt also nicht, sich die Informationen, z.B. über Wikipedia, abzurufen. Wissen entsteht erst, wenn Informationen z.B. im Rahmen von Übungen, Fallstudien oder Anwendungen verarbeitet wird.
Dieses Wissen im engeren Sinne reicht sicher nicht aus, komplexe Problemstellungen in der Praxis zu lösen. Dafür benötigen die Mitarbeiter zusätzlich motivatorisches Wissen, wie Normen und Werte, aber auch prozedurales Wissen (=“wissen wie“). Wissen in diesem erweiterten Sinne entsteht deshalb erst dann, wenn es mit subjektiven Erfahrungen in Beziehung gesetzt wird. Nur dann können die Menschen Prozesse verstehen, gestalten und beeinflussen, also Kompetenzen aufbauen.
Was bedeutet dies nun für unsere Lernsysteme? Die Bereitstellung von Informationen mit der Möglichkeit, sie im Bedarfsfall rasch und gezielt zu finden, ist die notwendige Voraussetzung für die Lernprozesse. Wissen im engeren Sinne wird aber nur dann entstehen, wenn die Lerner die Möglichkeit erhalten, diese Informationen, z.B. mittels problemorientierter Web Based Trainings systematisch zu verarbeiten. Diese Verarbeitung wird umso besser gelingen, je mehr das formelle „Fachbuchwissen“ mit Erfahrungswissen von Experten, Kollegen und Lernpartnern verknüpft wird. Deshalb spielen Übungsaufgaben, Reflexionen, Fallstudien und Rollenspiele, aber insbesondere auch Transferaufgaben eine zentrale Rolle in diesem Prozess des Wissenserwerbes, der wiederum Voraussetzung für selbstorganisierte Kompetenzentwicklungsprozesse ist.
Hatte Seneca nun Recht? Ich befürchte, dass er aktueller ist denn je. Alle Lernmaßnahmen, bei denen am Schluss eine Klausur oder ein Test steht, an deren Ergebnissen wiederum der Lehrer oder Dozent gemessen wird, konzentrieren sich naturgemäß auf die Informationsvermittlung und evtl. eine Wissensvermittlung in einem sehr engen Sinne. Da im Regelfall dieses „Wissen“ nicht in einen persönlichen Handlungskontext eingebettet wird, wird es meist ganz rasch wieder vergessen.
Andererseits benötigt jeder Mensch eine persönliche Wissensbasis, weil er nur dann in der Lage ist, neues Wissen zu identifizieren, zu bewerten und anzuwenden. Soll Wissen also dauerhaft angeeignet und weiterentwickelt werden, sind Lernarrangements notwendig, in denen der Lerner auf der Grundalge seiens Wissensschates, aber auch neuen Wissens, seine eigenen Problemstellungen bearbeiten kann. Dann kann er exemplarisch die im Internet vorhandenen Informationen für seine Lösungskonzepte nutzen, mit Lernpartnern verarbeiten und dadurch zu dauerhaftem Wissen entwickeln. In der betrieblichen Bildung haben wir die Chance, solche Wissensprozesse zu ermöglichen. In den Schulen mit ihrer Fixierung auf Messergebnisse im Rahmen von PISA, die sich höchstens auf Wissen im engeren Sinne und auf Fertigkeiten (z.B. Rechnen) beschränken, sehe ich hierfür in absehbarer Zeit keine Chance.
Werner Sauter