Wider ein neues Lehrfach „Werteerziehung“

Immer wenn rechts- oder linksradikale Ausschreitungen, antisemitische oder frauendiskriminierende Vorfälle, aber auch Korruptionsfälle oder betrügerische Manipulationen die Öffentlichkeit aufregen, kommt reflexartig, wie nach einem Naturgesetz, von Politikern aller Couleur die Forderung nach einem neuen Lehrfach „Werteerziehung“, um solchen Auswüchsen an der Wurzel Einhalt zu gebieten. Unabhängig davon, dass vernünftige pädagogische Konzepte eher zu einer Reduzierung oder gar Abschaffung der aufgesplitterten Schulfächer tendieren, ist diese Forderung an Naivität kaum zu überbieten.

Welche Möglichkeiten haben denn Pädagogen in den Schulen, aber auch in der beruflichen Bildung, ihrer institutionalisierten Aufgabe, die vorhandenen Wertorientierungen und Normen Lernender nach Maßgabe geltender Lehrziel – Vorstellungen zu modifizieren gerecht zu werden, ohne naive Machbarkeitsvorstellungen und Machbarkeitsfantasien zu entwickeln?

Betrachtet man Werte als Ordner von Selbstorganisation, so sind im Grunde nur drei Wege denkbar.

  1. Pädagogen ignorieren, wie es leider die Regel ist, den selbstorganisativen Charakter psychischer und sozialer Prozesse und modellieren die Psyche mechanistisch, soziale Prozesse soziotechnisch. Dabei glauben sie zu wissen, welche Werte und Normen für einen Schüler, für Mitarbeiter in bestimmten Arbeitsprozessen, für ein Team oder eine Organisation gut sind. Man lässt sie Wissen über Werte auswendig lernen, wiederholen, pauken, ahndet jeden Werte – und Normenverstoß durch pädagogisch abgestufte Strafen und belohnt entsprechend jedes Wohlverhalten durch Lob, Anerkennung und gute Zensuren. Damit kann man zwar rechtsverbindlich nachweisen, dass man etwas getan hat. Nur sollte man nicht glauben, dass man tatsächlich etwas in Richtung Werteerziehung bewirkt hat, d. h. nachhaltig eine Werteveränderungen bei den Lernern verinnerlicht – interiorisiert – hat.
  2. Man sucht und findet in den Lernprozessen Regularitäten kürzerer oder längerer Reichweite, die durch definierte Werteorientierungen gestützt und vorangetrieben wurden. Betrachtet man, wie beispielsweise im Schulsystem der DDR, die Geschichte als eine Abfolge von Klassenkämpfen, ist der „richtige“ Klassenstandpunkt eine dieser Sicht innewohnende Werteorientierung. Damit wird Werteerziehung zur ideologischen Erziehung.
  3. Sieht der Pädagoge jedoch seine Rolle als Ermöglicher und Begleiter von selbstorganisierten Lernprozessen von Menschen , Teams oder Organisationen, wird er über Werteentstehung und Werteaneignung seiner jeweiligen Zielgruppe anders nachdenken. Glaubt er beispielsweise, dass sich seine Lerner in Richtung Digitalisierung entwickeln sollten, ohne noch ein weiteres Schulfach „Digitalisierung“ einzurichten, weiß er aber auch, dass ohne deren Bereitschaft, dabei mitzuwirken, ohne deren positive Wertehaltung kein Predigen, kein herkömmliches Trainingsprogramm, kein äußerlicher Ansporn durch Prämien oder Weiterbildungen hilft. Einen praktikabler Ausweg ist das Aufgreifen handlungs- bzw. verhaltenspsychologischer Erkenntnisse und Methoden, die ihn bewusst innerhalb jener selbstorganisierender Prozesse wirken lassen und ihn von psycho- und soziotechnischen Hilfsschritten erlösen

Im Mittelpunkt einer wirksamen Werteerziehung steht die Verinnerlichung, die Interiorisation von Werten. Es gibt keine Aneignung von Werten und Normen ohne Interiorisationsprozesse. Je stärker die emotionale Labilisierung, d. h. das im emotionalen Sinne Erleben und Bewältigen von Zweifeln, Widersprüchlichkeiten oder Verwirrung (Dissonanzen), desto nachhaltiger ist ein Werteaufbau. Dabei muss man beachten, dass, bei Überziehung dieses Ansatzes, ganz andere, auch entgegengesetzte, als die erhofften Werte interiorisiert werden können. Die Stärke der Labilisierung muss der Pädagoge aus der Beschleunigung der Selbstorganisationsprozesse, aber auch aus der Analyse des kulturellen und wissenschaftlich-technischen Umfeldes erfühlen. Dabei gilt die Regel, dass die wichtigsten und intensivsten Labilisierungsimpulse in realen Herausforderungen des Alltags, in Projekten oder in der Praxis gesetzt werden. Die zweitstärkste Labilisierung erfolgt in Prozessen von Mentoring und Coaching, die weniger wissensvermittelnd als werteaufbauend wirken. An dritter Stelle stehen solche Trainings, die den Lerner aufgrund praxisgleicher Herausforderungen das Fiktionale der Situation vergessen machen und dadurch ebenfalls hohe Effekte emotionaler Labilisierung erreichen, man denke etwa an einen Flugsimulator.

Am wenigsten tauglich für die Werteentwicklung sind Formen klassischer Weiterbildung, gar noch im begrenzenden, beengenden, emotionstötenden Klassen- oder Seminarraum. Das Plädoyer namhafter Neuropsychologen für die Berücksichtigung der Emotionen, das heißt individueller Wertungen für den Aufbau jeweils eigener Wertorientierungen ist der wichtigste Fingerzeig auf die Interiorisation (vgl. u. a. Roth 2001, 2013; Hüther 2016).

Die Entwicklung von Werten und Normen ist stets gekoppelt an die Entwicklung von Kompetenzen, da es immer um die Entwicklung von Fähigkeiten, in entscheidungsoffenen Situationen zu handeln – also um Kompetenzen –  geht. Diese Fähigkeiten sind aber ohne Werte und Normen nicht existent, diese bilden die Kompetenzkerne. Deshalb sind pädagogische Schritte der Werte- und Normenentwicklung von solchen der Kompetenzentwicklung nicht zu trennen.

 

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