Joel Luc Cachelin, dessen Beiträge ich immer mit großem Gewinn lese, hat ein Thesenpapier zur Zukunft des Wissensmanagements mit dem Titel „Das Ende des Wissensmanagers“ veröffentlicht (https://www.wissensfabrik.ch/endewima).
Seine Hauptthese besteht darin, dass das Internet das Ende des Wissensmanagements herbei führt, weil nun alles Wissen per Mausklick zugänglich sei. Durch das Internet würde sämtliches Wissen digitalisiert und an zentraler Stelle zugänglich gemacht. Es gäbe quasi kein Wissen mehr, das nicht per Knopfdruck verfügbar sei. Google sei die ultimative Suchmaschine, Linked-In das ultimative Kompetenzverzeichnis oder Klout der ultimative Reputationsindex.
Joel Luc Cachelin argumentiert nach meiner Meinung in diesem Beitrag sehr ungenau und damit letztendlich auch nicht richtig. Leider hat er in seinen Ausführungen nicht erklärt, was er eigentlich unter Wissen versteht. Wichtig für die Entwicklung von Lernkonzeptionen ist aus unserer Erfahrung aber gerade die Unterscheidung von Wissen im engeren und im weiteren Sinn, da sich daraus unterschiedliche Formen des Wissensmanagements und der Lernprozesse ableiten:
- Wissen im engeren Sinne ist Informations-, Fach- und Sachwissen (= “wissen was“), nicht mehr.
- Wissen im weiteren Sinne entsteht, wenn die Menschen Informationen wahrnehmen, bewerten und mit subjektiven Erfahrungen in Beziehung setzen.[1] Im weiteren Sinne wird das Wissen deshalb um Regeln, Werte, Normen, Kompetenzen und Erfahrungen, aber auch Emotionen und Motivationen, erweitert : „… Kurz, das Gesamtwissen eines Lebewesens besteht in dem, was es gelernt hat. Und das Wissen einer Spezies besteht in der Gesamtheit alles dessen, was sich ihre Angehörigen zu Eigen gemacht haben.“ [2]
Offensichtlich ist für Cachelin der Wissensbegriff sehr eng gefasst. Dieses Wissen reicht aber sicher nicht aus, um komplexe Problemstellungen in der Praxis zu lösen. Die Mitarbeiter benötigen zusätzlich motivatorisches Wissen, wie Normen und Werte ( = “wissen warum“), aber auch prozedurales Wissen (=“wissen wie“), um Prozesse zu verstehen und zu beeinflussen.
Ich habe auch den Eindruck gewonnen, dass Cachelin dieses Thema sehr stark aus der Unternehmenssicht betrachtet, und in seinem Konzept das Erfahrungswissen der Mitarbeiter lediglich als Input sieht, der „zu sammeln und verdichtet nach oben zu leiten…“ ist. Wir sehen dagegen den einzelnen Mitarbeiter mit seinem Erfahrungswissen als das Zentrum des betrieblichen Wissensmanagements und der Kompetenzentwicklung.
Erschreckend finde ich Cachelins Vision eines Wissensmanagement per Big Data, in dem man durch die Analyse des E-Mail-Verkehrs erkennt, „wenn sich Mitarbeiter zurückziehen, besonders unter Stress geraten oder im Netzwerk des Unternehmens an Bedeutung gewinnen“. Dies erinnert mich doch zu sehr an „Big Brother“. Auch könne man durch den Vergleich der benötigten Kompetenzen, der vorhandenen Kompetenzen und der Altersstruktur über das gesamte Unternehmen hinweg Kompetenzdefizite in der nahen Zukunft identifizieren. Auch hier wird der Kompetenzbegriff, der vermutlich sehr eng, d.h. wissensorientiert, gesehen wird, nicht definiert.
Nach Cachelin ist Wissensmanagement heute vergangenheitsorientiert und dient lediglich zur Dokumentation. Er fordert, dass Wissensmanagment sich zum Innovationsmanagement wandelt, das Wissen präventiv und proaktiv weiter entwickelt. Deshalb muss das Wissensmanagement durch ein Kompetenzmanagement abgelöst werden, das die Metakompetenz zur Innovation, d.h. die Fähigkeit Wissen zu finden, zu vernetzen, neu zu kombinieren und zu inszenieren enthält. Dies ist sicher sehr wichtig, dabei übersieht er aber den Kern der Kompetenzentwicklung, die Interiorisation von Werten, die aufgrund von Erfahrungen in realen Herausforderungen, die der Lerner bewältigt, entstehen. Für die Kompetenzentwicklung und das Kompetenzmanagement ist deshalb ein Wissensmanagement im weiteren Sinne notwendig, das neben dem Wissen im engeren Sinn Werte, Regeln, Normen und Erfahrungen umfasst. Hinzu kommen Gefühl, Intuition und Kreativität beim Umgang mit Information und Wissen. Wissen wird damit mit Werthaltungen verknüpft. Dieses Wissen kann aber nicht offen im Netz zur Verfügung gestellt werden.
Nicht mehr die Wissensspeicherung, sondern der Wissensfluss, ausgehend von den einzelnen Mitarbeitern, kennzeichnet damit bedarfsgerechte Wissensmanagementsysteme. Deshalb benötigen wir vor allem Kompetenzentwicklungssysteme, die kompetenzorientiertes Wissensmanagement „bottom-up“ im Unternehmen ermöglichen. Dass dieses System durch Wissensmanagement im engeren Sinne, wie es Cachelin beschreibt, flankiert wird, ist eine notwendige Voraussetzung.
Die Chancen dafür sind gut, weil die Mitarbeiter in innovativen Lernsystemen den Nutzen der Weitergabe und der gemeinsamen Verarbeitung von Wissen erfahren können. Damit bauen sie schrittweise in diesen Lernmaßnahmen ihre persönlichen Blockaden gegen den Austausch von Wissen ab. Dieser Ansatz ist jedoch weit entfernt von der Vision einer Cloud, in der das gesamte Wissen für alle verfügbar ist, weil das betriebliche Lernen auch geschlossene Bereiche des Wissensmanagements im weiteren Sinne benötigt, um den Austausch von Erfahrungswissen zu ermöglichen. Erst dadurch können die Unternehmen ihre Kernkompetenz systematisch ausbauen und Wettbewerbsvorteile erlangen.
[1] vgl. Fraunhofer ISST (1998)
[2] vgl. Bunge, M. und Ardila, R. (1990)