Verfolgt man (immer noch) die aktuellen Diskussionen zu den Handlungen unseres Bundespräsidenten, begegnet man ständig dem Begriff der Werte. Dabei fällt mir auf, dass dieser Begriff selbst dabei kaum hinterfragt wird. Was verstehen die ewigen Dauerdiskutanten bei Günther Jauch, Anne Will, Maybrit Illner oder Frank Plasberg eigentlich darunter? Häufig entsteht der Eindruck, dass sie darin normative Leitlinien oder Grundsätze sehen, die etwas Hehres, Entrücktes, aber auch schnell Veränderbares sind. Es wird dabei so getan, als ob Werte etwas Objektives sind. Tatsächlich entstehen Werte aber in individuellen Wertungsprozessen in nahezu jedem Augenblick des menschlichen Handelns. Gleichzeitig bestimmten die Werte unser Handeln. Ohne Werte wäre der Mensch nur ein wissensgesteuerter Automat. Deshalb sind Werte auch für die Kompetenzentwicklung von zentraler Bedeutung.
Nach Baran sind Werte Bezeichnungen dafür, “was aus verschiedenen Gründen aus der Wirklichkeit hervorgehoben wird und als wünschenswert und notwendig für den Auftritt, der die Wertung vornimmt, sei es ein Individuum, eine Gesellschaftsgruppe oder eine Institution, die einzelne Individuen oder Gruppen repräsentiert.” Ich denke, dass sich unser Bundespräsident gerade in einem schmerzhaften Prozess der Wertaneignung befindet. Einladungen zu kostenlosen Urlauben oder die Annahme von privaten Darlehen waren zum damaligen Zeitpunkt für ihn offenbar mit seinem individuellen Wertesystem vereinbar. Ihm war scheinbar nicht klar, dass sich diese Handlungen nicht mit dem Wertesystem der Gesellschaft in Hinblick auf herausgehobene politische Ämter vereinbaren lies. Weil sein individuelles Wertesystem nicht mit den Werten der Gesellschaft harmonierte, hat er sich aus heutiger Sicht falsch entschieden.
Werte sind die notwendige Voraussetzung für kompetentes Handeln, weil sie ein Handeln auch in unsicheren Herausforderungen ermöglichen. Sie “überbrücken” oder ersetzen fehlendes Wissen, schließen die Lücke zwischen Wissen im engeren Sinne und dem Handeln. Auch wenn Herrn Wulff die juristische Kompetenz fehlte, um jede seiner Handlungen aus dieser Sicht zu bewerten, hätte ihm sein Wertsystem Orientierung geben müssen, damit er solche „günstigen“ Gelegenheiten nicht nutzt.
Werte entstehen in individuellen Wertungsprozessen. Sie werden in realen Entscheidungssituationen zu eigenen Emotionen und Motivationen umgewandelt und angeeignet. Diesen Vorgang bezeichnet man als Interiorisation (Internalisation) von Werten. Es gibt also kein kompetentes Handeln ohne Werte, dies gilt auch für Ministerpräsidenten oder Bundespräsidenten. Werte können aber nicht in Seminaren oder über Bücher erworben werden. Es ist vielmehr ein Prozess der sogenannten emotionalen Labilisierung erforderlich. Darunter versteht man das Erleben und Bewältigen von Dissonanzen, also innerer Widersprüche, weil die vorliegenden Erfahrungen und Informationen zur persönlichen Einstellung bzw. zu getroffenen Entscheidungen im Widerspruch stehen. Solche Prozesse können nur in der Realität, nicht aber in Übungen und Fallstudien, erlebt werden. Dies hat weitgehende Konsequenzen für die Gestaltung der Lernprozesse in Kompetenzentwicklungssystemen. Deshalb kann man aus dem aktuellen Wertungsprozess des Bundespräsidenten viel für unsere Lernsysteme lernen.
Ihr
Werner Sauter